Die von der Europäischen Kommission geplante europäische Dienstleistungskarte lässt in der Bauwirtschaft die Alarmglocken schrillen. Befürchtet wird ein massiver Anstieg von Scheinselbstständigkeit und Lohn- und Sozialdumping. In Brüssel zeigten die Bau-Sozialpartner jetzt die Auswirkungen der geplanten Regelung auf und konnten damit bei Vertretern von Kommission und Parlament ernsthafte Zweifel an der Sinnhaftigkeit der Maßnahme wecken
Der europäische Binnenmarkt ist verglichen zu anderen Wirtschaftsräumen in einer veritablen Krise. Zwischen 2008 und 2015 betrug das Wachstum 0,4 Prozent, was einem realen Nullwachstum entspricht. Im Euro-Raum ist der Binnenmarkt sogar um 1,6 Prozent geschrumpft. Die meisten anderen Wirtschaftsräume haben die Europäische Union weit hinter sich gelassen. In Japan ist der Binnenmarkt im selben Zeitraum um 3,8 Prozent gewachsen, in den USA um 8,8 Prozent und in Australien um satte 17,9 Prozent.
Vor allem im Dienstleistungssektor funktioniert der Binnenmarkt nicht wie erhofft, so das Urteil der Europäischen Kommission. Als Gegenmaßnahme wurde eine Novellierung der Entsenderichtlinie geplant sowie ein Dienstleistungspaket mit Vorschlägen für eine Dienstleistungskarte und eine Verhältnismäßigkeitsprüfung für Berufsreglementierungen geschnürt. Dabei hat vor allem die digitale Dienstleistungskarte, mit der die Kommission Unternehmen und Freiberuflern die grenzüberschreitende Erbringung von Dienstleistungen – nicht zuletzt im Baubereich – erleichtern soll, mit viel Gegenwind zu kämpfen. Sowohl die europäischen Arbeitgeber- als auch Arbeitnehmervertreter zeigen sich bis auf wenige Ausnahmen sehr skeptisch. Nicht nur in Österreich fürchtet man eine weitere Verschärfung des Lohn- und Sozialdumpings und einen massiven Anstieg der Scheinselbstständigkeit.
Zwei Tage lang war deshalb eine Delegation der Bau-Sozialpartner in Brüssel unterwegs, um ihre Bedenken, Sorgen und Kritik bei den europäischen Entscheidungsträgern zu deponieren. Gesprochen wurde sowohl mit Parlamentsabgeordneten als auch Vertretern der Europäischen Kommission.
Die Kritikpunkte
Seit der Öffnung des Arbeitsmarktes ist die Zahl der Entsendungen nach Österreich um 400 Prozent gestiegen. »Eine BUAK-Statistik zeigt, dass der Verdacht auf Lohndumping bei entsendenden Unternehmen massiv angestiegen ist«, so Josef Muchitsch, Bundesvorsitzender der Gewerkschaft Bau-Holz. »2016 wurden 7.286 inländische und 1.632 ausländische Unternehmen auf den Baustellen in Österreich überprüft. Das Ergebnis: Neun von zehn aller Verdachtsfälle auf Lohn- und Sozialdumping stammen von ausländischen Entsende-Unternehmen.«
Dazu kommt, dass durch die geringeren Lohnnebenkosten in den Entsende-Staaten die ausländischen Unternehmen auch über einen legalen, aber unfairen Wettbewerbsvorteil verfügen, der ihnen ermöglicht, um bis zu 30 Prozent billiger anzubieten. »Diese Entwicklung setzt den heimischen Unternehmen enorm zu«, erklärt Hans-Werner Frömmel, Bundesinnungsmeister Bau. Wenn das so weiter gehe, dann werden heimische Unternehmen irgendwann gezwungen sein, Niederlassungen im Ausland zu gründen und billig nach Österreich hereinzuarbeiten, um langfristig wettbewerbsfähig zu bleiben.
Die geplante Dienstleistungskarte wird die schon jetzt herrschenden Missstände laut Bau-Sozialpartner noch weiter verschärfen. »Es gibt in Österreich 3.800 angemeldete Verspachtler von Gipskartonwänden und 860 Aufräumer von Baustellen. Die Scheinselbstständigkeit ist heute schon ein großes Problem«, erklärt Muchitsch und fürchtet dass mit der geplanten Dienstleistungskarte »noch mehr Scheinselbstständige durch Europa geschickt werden«. Schließlich sei nicht zu erwarten, dass die Herkunftsländer bei der Ausstellung der Karte allzu pingelig sind, was die Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen im Aufnahmeland angeht.
Während die Bau-Sozialpartner mit ihrer Sorge und Kritik bei den Vertretern des Europäischen Parlaments fast durch die Bank auf offene Ohren stieß, tat man sich bei Vertretern der Europäischen Kommission naturgemäß schwerer. Hubert Gambs von der Generaldirektion Binnenmarkt, Industrie, Unternehmertum und KMU der Europäischen Kommission dementierte, dass das Dienstleistungspaket ohne vorangegangene Konsultation erarbeitet wurde und verteidigte die Maßnahmen mit der Begründung, die Wettbewerbsfähigkeit zu steigern und grenzüberschreitende Dienstleistungen zu erleichtern. Dass etwa die Dienstleistungskarte zu einem Anstieg von Lohn- und Sozialdumping führt, glaubt Gambs nicht.
Ein neuer Gedanke
Auch im Kabinett der Kommissarin für Beschäftigung, Soziales, Qualifikationen und Arbeitskräftemobilität, Marianne Thyssen, zeigte man sich bezüglich der Sorgen der Bau-Sozialpartner anfänglich wenig empfänglich. »Wir wollen den Arbeitsmarkt schützen, aber oberstes Gut ist Dienstleistungsfreizügigkeit«, erklärte Piet van Nuffel. Erst als die Situation in Österreich mittels praktischer Beispiele und einer aktuellen Studie der TU Graz dargelegt wurde, keimten leichte Zweifel auf. Besonderes Interesse weckte ein Vorschlag zur Bekämpfung des legalen Preisdumpings durch geringere Lohnnebenkosten.
»Sämtliche Lohnnebenkosten sollten ab dem ersten Tag in Österreich eingehoben und an die Sozialversicherungsträger der Herkunftsländer abgeliefert werden. Damit schaffen wir eine Win-win-Situation zwischen Herkunftsland und Empfängerland. So verbessern sich durch die höheren Sozialversicherungsabgaben im Herkunftsland die Leistungen für ArbeitnehmerInnen und in Österreich schaffen wir damit einen transparenten und fairen Wettbewerb«, erklärte Muchitsch.
Fazit
Im Moment macht es noch den Eindruck, dass die Europäische Kommission mit dem Dienstleistungspaket eine Idee durchpeitschen will, die niemand so recht will und die von vielen Stakeholdern als »undurchdacht« und »unausgegoren« bezeichnet wird. Sowohl Vertreter des Europäischen Parlaments als auch die europäische Bauwirtschaft und Gewerkschaften lehnen den Vorschlag in seiner jetzigen Form ab. Für die Bau-Sozialpartner war die Reise nach Brüssel auf jeden Fall ein Erfolg, noch lebt die Hoffnung, dass die Kommission von ihrem umstrittenen Plan ablässt. »Unsere Anliegen wurden gehört und wir konnten die Auswirkungen der bestehenden und geplanten EU-Regelungen aufzeigen«, sagt Muchitsch. »Außerdem wurde sowohl vonseiten des Parlaments als auch der Kommission weiterführende Gespräche zugesichert«, ergänzt Frömmel.
Glossar: Die Dienstleistungskarte
Die geplante elektronische Dienstleistungskarte für Unternehmen und Freiberufler soll den grenzüberschreitenden Dienstleistungsverkehr in der EU erleichtern. Geht es nach den Vorstellungen der Europäischen Kommission, soll die Dienstleistungskarte in Zukunft der einzig nötige Nachweis sein, dass die gesetzlichen Bestimmungen für eine Entsendung im Aufnahmeland erfüllt sind. Für die Prüfung ist aber das Herkunftsland zuständig. Kritiker befürchten, dass die Einhaltung von gesetzlichen Bestimmungen im Aufnahmeland im Herkunftsland nicht oberste Priorität haben wird und damit Scheinselbstständigkeit und Briefkastenfirmen einen Freibrief erhalten.
Wichtige Kontakte
Während ihres zweitägigen Aufenthaltes in Brüssel konnten die Bau-Sozialpartner ihre Anliegen u.a. bei folgenden Personen deponieren:
- Hubert Gambs,Generaldirektion Binnenmarkt, Industrie, Unternehmertum und KMU der Europäischen Kommission
- Arno Metzler, Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss
- Piet von Nuffel, Kabinett Kommissarin Marianne Thyssen
- Evelyn Regner, Mitglied des Europäischen Parlaments
- Paul Rübig, Mitglied des Europäischen Parlaments