Web, Applikationen und Hardware werden konstant benutzerfreundlicher, bequemer und spezialisierter. Fast unbemerkt gehen dabei einige altmodische Freiheiten verloren – dafür entstehen neue, globale Monokulturen. Ein Risiko?
2006 erkor das Time Magazine einen ungewöhnlichen "Mann des Jahres": Es war kein Staatenlenker, Wissenschaftler oder Prominenter, der mit dem traditionsreichen Titel ausgezeichnet wurde, sondern ein Kollektiv. "YOU", jeder einzelne Internetnutzer, der mit seinen Beiträgen ins weltweite Netz zu einer Demokratisierung und Informationsrevolution beigetragen hatte, war dem US-Magazin die wichtigste Person mitten in der heißen Phase des Web 2.0.
Heute, nur sieben Jahre später, hat sich die Welt der Social Media grundlegend gewandelt. Zwar partizipieren mehr Menschen als je zuvor an den Social-Media-Kanälen, doch anstelle der blühenden Landschaften aus unzähligen Blogs und Kollaborationsprojekten ragen einsame Monolithen in den Himmel: Große Gatekeeper wie Facebook, Twitter, Pinterest, Instagram oder Google+ haben die ehemals unübersichtliche Kleinteiligkeit des Web 2.0 in großen Gruppen zusammengefasst, die in sich zwar nie dagewesene Verknüpfungsmöglichkeiten bieten, sich aber zunehmend nach außen abschotten.
Das privatisierte Web
Die großen Social Communities bieten ihren Nutzern viel: Durch ihre einfache Zugänglichkeit, eingebaute Vernetzungstools und schiere Größe führt für viele Nutzer kein Weg an den Riesen vorbei. Dass man als Nutzer eines Gratisdienstes nicht Kunde, sondern mit seinen Daten schlicht Ware ist, wird zwar murrend zur Kenntnis genommen, aber bequeme Alternativen gibt es nicht: Wozu selbst ein Blog betreiben, wenn man seine Gedanken punktgenau vernetzt auf Facebook teilen kann? "Das Web sammelt Wissen und dokumentiert Menschheitskultur. Es ist für jeden zugänglich, der einen Internet-Anschluss hat. Wenn dieses Wissen und diese Dokumentation jedoch immer mehr hinter verschlossenen Türen in Räumen stattfindet, die von wenigen kontrolliert werden, die nur diejenigen eintreten lassen, die zunächst ihre Daten hinterlassen und ihre Rechte abgeben, dann wird das Web verkümmern", warnte erst vor kurzem Johnny Häusler, deutscher Autor und Oberklasseblogger, in einem dramatisch "Das Web zurückerobern" betitelten Artikel.
Mit etwas Pessimismus könnte man sagen: Das große Freiheitsversprechen des Web 2.0 - sich als Einzelner mit der ganzen Welt austauschen zu können - wurde aus Bequemlichkeit gegen die ummauerten Gärten der großen Netzwerke eingetauscht und damit eigentlich de facto an große globale Konzerne privatisiert. Doch der Wandel des Web 2.0 ist nur ein Schauplatz einer schleichenden Veränderung, die sich durch große Bereiche des digitalen Lebens zieht.
Der Preis der Einfachheit
Der kometenhafte Aufstieg von Smartphones und Tablets hat für Millionen Menschen einen völlig neuen Zugang zum weltweiten Netz gebracht: Was wenige Jahre zuvor die Domäne technikfixierter Computerspezialisten war, wurde mit dem Einzug der tragbaren Westentaschencomputer buchstäblich zum Kinderspiel. Durch revolutionäre Einfachheit wurde das Installieren von Programmen, im Mobile-Kontext schick "Apps" benannt, zum Klacks. Wozu mühsam per Browser auf Internetseiten surfen, wenn eine genau darauf spezialisierte App mir den Content einer Tageszeitung, aktuelle Sportergebisse, das Fernsehprogramm oder die Wettervorhersage aufs Display zaubern kann? Vor allem die krisengebeutelten Verlage und Contentprovider sahen in den moderierten Zugangsprogrammen ihre kommerzielle Zukunft: Per App lässt sich der Zutritt zum eigenen Angebot bequem kontrollieren und im besten Fall auch verrechnen.
Wie bei der Privatisierung des Social Web gibt es auch hier einen Kollateralschaden, der wissentlich in Kauf genommen wird: Mit ausufernder App-Struktur entsteht ein abgeteilter Bereich im Wissensozean der globalen Netze, der im schlimmsten Fall von außen nicht einmal eingesehen, geschweige denn von Suchmaschinen gefunden werden kann – kein Problem in den Augen der Verlage, die aktuell in Europa mit Google um ein „Leistungsschutzrecht“ ringen. Der Preis für die Spezialisierung und Bequemlichkeit, per App ein direkt maßgeschneidertes Angebot von einem einzigen Anbieter zu nutzen, ist aber auch hier hoch: Eine der größten Errungenschaften des globalen Informationsnetzes, die allgemeine Vernetzung und einfache Auffindbarkeit von Informationen, fällt auch in der ausufernden „Appifizierung“ des Informationsflusses unter den Tisch. So entsteht statt eines vielfältigen, fast unbegrenzten lebendigen Ökosystems eine Anzahl ummauerter Monokulturen, die für die Publisher lukrativ und – ein weiteres Argument – für die Nutzer besonders „sicher“ sind.
Abkehr vom Desktop
Dass der Trend zur Spezialisierung bei gleichzeitiger Einengung sich aber nicht nur auf Software beschränkt, zeigt sich auch im seit Jahren mit zunehmender Dringlichkeit verkündeten Niedergang des klassischen Desktop-PCs als statisches, aber flexibel einsetzbares Universalgerät. Auch wenn Microsofts aktueller Betriebssystem-Vorstoß in die Welt des reinen Tablet-Unser-Interfaces angesichts zögerlichen Verkaufserfolges nahelegt, dass es noch nicht ganz so weit ist, gehört fast universeller Analystenmeinung zufolge dem mobilen Arbeitsgerät die Zukunft – die Verluste des Desktop-Marktes bei gleichzeitigem Höhenflug der Mobilsparte sprechen eine eindeutige Sprache.
Und auch hier greift das Paradigma der Spezialisierung, das dem Nutzer im Namen größerer Bequemlichkeit so einige Freiheiten abkaufen wird: Die alte Hardwarewelt, in der praktisch jeder PC ein Einzelstück aus fast beliebig im jeweiligen Standard zu kombinierenden Einzelteilen sein konnte, könnte angesichts der Erfolge von Laptop-, Tablet- und Ultrabook-Plattformen irgendwann der Vergangenheit angehören. Auch die auf der CES 2013 gezeigten Desktop-Modelle, etwa Lenovos 27-Zoll-„Table PC“, folgen dem Megatrend zum „All-in-One“ und sind weniger Allzweckwerkzeuge als punktgenau designte Fertigprodukte, die dem Nutzer wenig Raum zur individuellen Konfiguration lassen. In diese Richtung weist auch die vorerst nur gerüchteweise kolportierte Entscheidung von Intel, ab 2014 die kommende „Broadwell“-Prozessorfamilie hauptsächlich im BGA-Format und auf Mainboards aufgelötet anzubieten. Dies wäre eine Abschaffung der Prozessorsockel - auch für Desktop-PCs. Die nur noch im BGA-Gehäuse erhältlichen Prozessoren wären so vom Anwender schlicht nicht mehr wechselbar – auch dies ein Schritt hin zu einer sichtlich von Apples Strategie inspirierten Vision spezialisierter Hardwareplattformen.
„War on general purpose computing“?
Dass das Entstehen dieser globalen Monokulturen sowohl im Web als auch zunehmend im Bereich der Hardware problematisch ist, hat der Netzaktivist, Autor und Europa-Koordinator der Electronic Frontiers Foundation Cory Doctorow bereits Ende 2011 in einem Vortrag auf der 28C3, der 28. Konferenz des deutschen Chaos Computer Clubs, in einem vielbeachteten Vortrag aufgegriffen. Für Doctorow zeigt sich ein düsteres, dystopisches Bild der Zukunft: Der „general purpose computer“, also der universelle Computer, der als komplexe Rechenmaschine von seinen Nutzern zu beliebigen Zwecken verwendet kann, sei in Gefahr, von einer Vielzahl spezialisierter, aber dafür streng regulierter Einzelplattformen ersetzt zu werden. Staaten mit ihrer zunehmenden Obsession zur technischen Überwachung und die Profitinteressen privater Konzerne würden stückweise darauf hinarbeiten, sowohl die offene Struktur des Netzes als auch die ursprünglich ebenso offene Architektur der EDV selbst an die Leine zu legen.
Für Doctorow müssen die Interessen der Rechteindustrie, ihre Copyright-Ansprüche in Zusammenarbeit mit ebenso an digitaler Überwachung interessierten Staaten in Gesetzestexte zu formen, unweigerlich in einer strikten Kontrolle der Soft- und Hardware gipfeln. Es sei eine Mischung aus gesetzgeberischem technischen Unverständnis und zunehmender Spezialisierung der elektronischen Konsumprodukte, die den Weg zu einer Zukunft ebnen, in der schon allein der Besitz eines universellen Computers, mit dem theoretisch Kopierschutz- oder Überwachungsmaßnahmen umgangen werden können, zu einer Straftat wird.
Sind wir vielleicht gerade dabei, die als selbstverständlich angenommenen Möglichkeiten der globalen Vernetzung leichtfertig aus der Hand zu geben? Die Privatisierung des Web 2.0, die Einengung des Blicks auf das Web durch Apps und moderierte walled gardens, die zunehmende Konzentration auf spezialisierte, kontrollierte Hardware-Plattformen – im Zusammenspiel mit umstrittenen netzpolitischen Themen wie Netzneutralität und Datenschutz haben Pessimisten Grund zur Sorge.
Eines allerdings macht Hoffnung: Der Nutzer dieser Technologien ist kreativ und oft einen entscheidenden Schritt weiter – nicht umsonst ist er damals zur „Person of the Year“ 2006 gewählt worden.