Mittwoch, November 20, 2024
Depression ist eine Volkskrankheit – und dennoch ein Tabu. Die Zahl der Betroffenen steigt jährlich, Hauptgrund: Stress am Arbeitsplatz. 15 Prozent der Erkrankungen enden mit Suizid.

Nicht jeder ist Fußballstar oder Manager. Treffen kann es trotzdem jeden, sprechen will darüber kaum jemand. Der Tod des deutschen Teamtorhüters Robert Enke könnte nun helfen, das Tabu zu brechen.

Enke litt an schweren Depressionen und befand sich seit 2003 in psychiatrischer Behandlung. Heimlich, denn eingeweiht waren nur seine Familie und der Trainer. Zur beruflichen Anspannung – seine Engagements beim FC Barcelona und Fenerbahce Istanbul gerieten zum Desaster – kamen private Schicksalsschläge: Seine Tochter Lara kam mit einem schweren Herzfehler zur Welt und starb mit zwei Jahren nach einer Operation im September 2006. Am 10. November 2009 zog der 32-jährige Sportler einen Schlussstrich unter das bedrückende Geheimnis seines Lebens und warf sich vor einen Zug.

Massenphänomen
Wie Robert Enke erleiden mindestens zehn Prozent der europäischen Bevölkerung einmal oder mehrmals im Leben eine schwere depressive Episode. Die EU-Kommission geht davon aus, dass ein Viertel der Einwohner einer psychiatrischen Behandlung bedürften, 80 Prozent davon wegen Depressionen. In Österreich sind rund 500.000 Menschen von Depressionen und etwa 900.000 Menschen von chronischen Ängsten betroffen.

Viele von ihnen wissen nach Jahren des Leidens keinen Ausweg mehr: 15 Prozent der Erkrankten nehmen sich im weiteren Verlauf einer Depression das Leben. 90 Prozent der Suizide – allein in Deutschland jährlich mehr als 11.000, die Zahl der Selbstmordversuche wird auf das Zehnfache geschätzt – sind Folge einer psychischen Erkrankung, meist einer Depression. Die Zahl der Suizidopfer in Österreich, Deutschland und der Schweiz liegt konstant deutlich über jener der Verkehrstoten. Doch während die Zahl der Verkehrsunfälle mit tödlichem Ausgang durch Aufklärungskampagnen und verkehrspolitische Maßnahmen gesenkt werden konnte, blieben die Suizidraten auf hohem Niveau.

Teure Krankheit
Depression ist die am häufigsten auftretende psychische Erkrankung. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) geht davon aus, dass sie spätestens 2020 zu den vier häufigsten Krankheiten weltweit zählen wird. Tatsächlich sind die meisten Industriestaaten dieser Entwicklung bereits sehr nahe gekommen. Laut AOK, Deutschlands größter Krankenversicherung, haben die Fehlzeiten von Beschäftigten aufgrund psychischer Erkrankungen seit 1995 um 80 Prozent zugenommen. Besonders alarmierend: In der Altersgruppe der 15- bis 34-Jährigen verdoppelte sich die Zahl der Erkrankten.

Auch bei den Gründen für Frühpensionierungen liegen Depressionen an erster Stelle: Während Herz-Kreislauf-Erkrankungen seit Jahren rückläufig sind, scheidet inzwischen fast jeder dritte Frühpensionist wegen psychischer Störungen vorzeitig aus dem Arbeitsleben aus.

Die wirtschaftlichen Auswirkungen sind enorm. Denn bevor Betroffene erwerbsunfähig werden, schlagen sich meist lange Ausfälle zu Buche. »Depression ist weltweit die mit Abstand teuerste Volkskrankheit«, konstatiert der bekannte Arzt und Psychotherapeut Ruediger Dahlke.

Trotz der enormen Zuwachsraten ist die Krankheit noch immer stark tabuisiert. Vor allem Männer und Betroffene in Führungspositionen schweigen darüber, werden doch psychische Krankheiten noch immer mit persönlichem Versagen gleichgesetzt. »Von einem Manager, der infolge chronischer Überlastung am Herzen erkrankt, sagt man, er habe sich verausgabt. Wer infolge anhaltender beruflicher oder sozialer Stressfaktoren mit Depressionen reagiert, der wird in der Gesellschaft mitunter sogar als schwach angesehen«, sagt Siegfried Kasper, Professor an der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Wien.

Stress als Killer
Unerträglicher Stress am Arbeitsplatz war auch für 24 Angestellte der France Télécom (Markenname »Orange«) der Grund, sich in den letzten 18 Monaten das Leben zu nehmen. Der Konzern hatte in den vergangenen fünf Jahren 40.000 Stellen gestrichen. Obwohl der Staat seit der Privatisierung der ehemaligen Post-Sparte im Jahr 1997 mit 26,7 Prozent noch immer Mehrheitsaktionär ist, hatte ein beinharter Führungsstil Einzug gehalten. Höhere Produktivität und Profite galten nunmehr als oberste Prämisse und sorgten für tiefe Verunsicherung unter den Angestellten. Willkürliche Versetzungen von Mitarbeitern ohne vorherige Absprache stießen Belegschaft und Betriebsräte vor den Kopf. So wurden Techniker ohne ausreichende Ausbildung zu Kundenberatern umfunktioniert, Verkäufer mit zu niedrigen Umsätzen in ein Callcenter abgeschoben.

Bereits seit 2007 klangen diesbezüglich Beschwerden durch, freilich ohne Konsequenzen. Bis nun immer mehr Mitarbeiter kapitulierten. Fast ausschließlich Männer konnten die internen Spannungen und den rigiden Umgangston nicht länger ertragen und sprangen aus Bürotürmen, schluckten Schlaftabletten oder strangulierten sich. Die Unternehmensleitung zeigte sich von der dramatischen Häufung von Suiziden kalt und unberührt. »Das ist nicht dramatisch, ich habe Schlimmeres gesehen«, wurde Olivier Barberot, Personalchef der France Télécom, in den Medien zitiert. Firmenboss Didier Lombard spielte die Selbstmordwelle als »PR-Problem« herunter.

Erst nach vehementen Appellen des französischen Arbeitsministers und der Gewerkschaft setzte Lombard den Konzernumbau vorläufig aus und heuerte 100 Personalexperten an. Bis Ende des Jahres tourt die Firmenleitung durch Frankreich, um die Probleme der rund 100.000 Mitarbeiter zu erkunden. Führungskräfte sollen künftig besser geschult werden. Es gelte aber nur, so der Télécom-Chef, »kleine Schwächen auszugleichen«.

Fluchtverhalten
Die Suizidserie, die Frankreich über Monate erschütterte, mag extrem erscheinen. Dennoch zeigt sie deutlich, wie sich die Arbeitsbedingungen mancherorts nicht zuletzt durch die Wirtschaftskrise verschärft haben. Betroffen sind inzwischen kleine Angestellte und Manager, Frauen ebenso wie Männer.

Mit einem feinen Unterschied: Depressionen werden bei Frauen doppelt so häufig diagnostiziert wie bei Männern. Eine typische Frauenkrankheit also? Eher liegt die Vermutung nahe, dass traditionelle Rollenzuschreibungen und nicht stärkere genetische Veranlagungen die Diagnose beeinflussen. Männer geben sich bei psychischen Problemen erfahrungsgemäß seltener in ärztliche Behandlung – und genau das wird ihnen zum Handicap: Dreimal mehr Männer als Frauen sehen keinen Ausweg aus ihrer Depression und wählen den Freitod.

»Depressive Männer zeigen im Gegensatz zu Frauen kaum ein Hilfesuchverhalten, sondern viel eher ein Kampf-Flucht-Verhalten«, sagt der Psychiater Kasper. Am Beginn stehen oft Risikosportarten wie Klettern oder Motorradfahren, später kommen destruktive Strategien wie Alkoholmissbrauch, Gewalt oder eben Suizid zum Tragen. Die eigentliche Ursache wird auch von Ärzten oft nicht erkannt, denn viele Betroffene klagen aus Scham und Angst nur über körperliche Beschwerden. Wer möchte schon einen depressiven Betriebsleiter, Vorstand oder Vertriebschef beschäftigen – Positionen, in denen Verantwortung und Kundennähe besonders gefordert sind? »Betroffene lassen sich lieber das siebte EKG machen, als einmal über ihre seelischen Probleme und Ängste zu sprechen«, meint der Therapeut Dahlke.

Das Gefühl von Überforderung, Erschöpfungszustände, Leistungsabfall und der Verlust von Lebensfreude sind markante Warnsignale. Burn-out, die klassische Managerkrankheit, trifft vorwiegend leistungsstarke, karrierebewusste Persönlichkeiten und gilt als Vorstufe für Depressionen. Aber auch permanente Unterforderung, Bore-out (vom englischen »boring« = langweilig abgeleitet), kann zu Depressionen führen. Die sozialwissenschaftliche Studie »Die Arbeitslosen von Marienthal« von Marie Jahoda und Paul Lazarsfeld hat diesen Zusammenhang bereits in den 1920er Jahren erstmals nachgewiesen. Die Schließung einer Textilfabrik in dem kleinen niederösterreichischen Ort stürzte die arbeitslose Bevölkerung damals in tiefe Depressionen.

Umstrittene Wirkung
Ob Spitzensportler, Managerin oder Verkäufer – die Verhaltensmuster ähneln sich. Nur selten wagen es Betroffene, ihre Krankheit öffentlich zu machen. 2003 brach Sebastian Deisler, wie Enke deutscher Profifußballer, sein Schweigen und begab sich in stationäre Behandlung in eine psychiatrische Klinik. 2007 beendete der als Jahrhunderttalent gefeierte Spieler im Alter von nur 27 Jahren seine Karriere. Zu dem erhofften unbefangeneren Umgang mit der Krankheit hat das spektakuläre Outing allerdings nicht geführt. Deisler lebt sehr zurückgezogen in seinem Geburtsort und trat heuer erstmals bei der Präsentation seiner Biografie wieder öffentlich auf.

Indessen wird intensiv an der Entwicklung und Verbesserung von Psychopharmaka gearbeitet. Neue, vielversprechende Medikamente sollen den Betroffenen Erleichterung bringen. Eine psychotherapeutische Behandlung scheint trotzdem ratsam. Denn trotz der großen Fortschritte in der Forschung sind die Wirkmechanismen der traditionellen Antidepressiva noch teilweise unklar. Ein Drittel der Patienten spricht auf sie nicht an. Bei 50 bis 70 Prozent verbessert sich die Situation, aber bei durchschnittlich 30 bis 40 Prozent funktioniert das auch durch die Einnahme eines Placebos, also eines Scheinmedikaments. Bei leichten Depressionen liegt dieser Prozentsatz noch deutlich höher, in Studien zeigte sich kaum ein Unterschied zwischen Medikamenten und Placebos. Im Vergleich dazu: Bei Schmerzmitteln wirkt der Placebo-Effekt bei etwa der Hälfte der Probanden.

»80 Prozent der Menschen, die ihre erste depressive Episode haben, werden selbst dann wieder gesund, wenn sie nur Pepsi-Cola trinken. Aber etwa 20 Prozent werden nicht wieder gesund, sie entwickeln einen chronischen Verlauf der Depression«, sagt James McCullough, Professor für Psychologie und Psychiatrie an der Virginia Commonwealth University in einem aktuellen Interview mit der Fachzeitschrift Psychologie heute. Die Gründe liegen dann meist in der Kindheit und Jugend und müssen psychotherapeutisch aufgearbeitet werden.

Zeit zur Selbstbesinnung
Für die Pharmakonzerne ist die Krankheit dennoch ein Riesengeschäft. Allein in den USA werden jährlich Antidepressiva und Antipsychotika im Wert von 20 Millliarden Dollar verschrieben. Auch wenn die Wirkungsweise umstritten ist: Bei einer schweren Depression, verbunden mit starker Suizidgefahr, führt in der Akutphase kein Weg an einem Medikament vorbei, sind sich Experten einig.

In jedem Fall sollte eine leichte depressive Phase bereits als Warnsignal, als Hilferuf der Seele aufgefasst werden. Nach C.G. Jung bietet die Krankheit den Anstoß, »deprimere« (lat. herunterdrücken) im Sinne von »zu sich selbst hinuntersteigen« zu interpretieren, künftig also auf die wahren Bedürfnisse zu achten. Denn hinter der Depression steckt möglicherweise ein Leben, das anders gelebt werden könnte. Die Krankheit eröffnet somit auch die Chance, einen neuen Weg einzuschlagen.

 

Auf einen Blick: Symptome einer Depression

Nach der internationalen Klassifikation der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sind folgende Symptome als Anzeichen für eine Depression zu werten:

> gedrückte Stimmung, mehr als zwei Wochen andauernd

> Verminderung von Antrieb, Aktivität und Konzentration

> beeinträchtigtes Selbstwertgefühl

> Gedanken über eigene Wertlosigkeit

> Verlust von Freude und Interesse

> ausgeprägte Müdigkeit nach kleinsten Anstrengungen

> Schlafstörungen

> Appetitlosigkeit

> Libidoverlust

> Selbstmordgedanken


>> Leichte depressive Episode:

Zwei bis drei der oben angeführten Symptome sind vorhanden. Der Patient ist davon beeinträchtigt, kann aber berufliche und private Aktivitäten noch weitgehend erfüllen.

>>Mittelgradige depressive Episode:

Vier oder mehr der Symptome sind vorhanden. Anforderungen können nur noch zeitweise und unter großen Schwierigkeiten bewältigt werden.

>>Schwere depressive Episode ohne psychotische Symptome:

Typisch sind der Verlust des Selbstwertgefühls sowie Gefühle von Wertlosigkeit und Schuld. Häufig treten auch Suizidgedanken auf. Ständige Betreuung, ev. ein Klinikaufenthalt sind notwendig.

>> Schwere depressive Episode mit psychotischen Symptomen:

Zusätzlich zu den eben beschriebenen schweren depressiven Merkmalen treten Halluzinationen, Wahnideen und psychomotorische Hemmungen auf. Es besteht Lebensgefahr durch Suizid sowie mangelhafte Flüssigkeits- und Nahrungsaufnahme.

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