Der Krieg in der Ukraine ist auch ein Propaganda-Schlachtfeld. Vor allem in Russland selbst ist Einfallsreichtum gefragt.
Den Propagandakrieg in den Sozialen Medien hat Vladimir Putin schon verloren: Fast die ganze Welt bewundert auf Twitter den hemdsärmelig inszenierten ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selensky, verfolgt schadenfroh, wie ukrainische Traktoren russische Panzer abschleppen und feiert PR-Coups wie die Briefmarke mit dem »Fuck you, Russian Warship«-Meme. Genau wie die verpatzte militärische Offensive erstaunt die schwerfällige Hilflosigkeit der sonst so mächtigen russischen Social-Media-Trollfabriken. Immerhin hat russische Propaganda sowohl beim Brexit als auch bei der Wahl Trumps mehrfach erfolgreich im demokratischen Westen gezündelt, nun scheint zumindest diese Front im Cyberkrieg verloren.
In Russland selbst spielt Putin die Macht seiner gleichgeschalteten Medienorgel mit aller Gewalt aus: Strenge Sprachregelungen und Dauerpropaganda vom angeblichen »Neonazi-Staat« Ukraine, der mit einer präzisen »Militäraktion« gesäubert werden müsse, stehen an der Tagesordnung. Der Konsum unabhängiger russischer Medien oder gar westlicher Presse wird umfassend unterdrückt, Russland ist nach der Abschaltung oder Einschränkung von Facebook, Twitter und TikTok quasi hinter einem Propaganda-Wall vom Rest der Welt abgeschnitten.
Oder zumindest fast. Denn findige Aktivist*innen finden teils sehr originelle Methoden, um auch in Russland selbst Menschen zu erreichen und mit der Wahrheit vom zerstörerischen Bruderkrieg zu konfrontieren. Unter anderem klappt das ausgerechnet mit der Kontaktplattform Tinder. Dort hat zum Beispiel Jens Osterloh, ein 54-jähriger IT-Angestellter aus Luxemburg, damit begonnen, zufälligen russischen Kontakten ungefilterte Informationen über den Ukraine-Krieg zukommen zu lassen. Wie er der Tech-Publikation Wired erzählte, fiel sein Aktivismus dort zum Teil auf fruchtbaren Boden, in anderen Fällen wurde sein Versuch, die russische Informationssperre kreativ zu unterwandern, abgeblockt. Nach einigen Tagen wurde sein Tinder-Profil gesperrt, doch zahlreiche andere machen es ihm inzwischen nach.
Restaurantkritiken als Antikriegsplattform
Auch unter Google-Restaurant-Rezensionen in russischen Städten haben westliche Aktivist*innen einen Ort gefunden, um die strenge russische Staatszensur zu unterlaufen: Zeitweise waren bei größeren Restaurants die Google-Rezensionen voll mit Antikriegsbotschaften und Aufrufen zum Frieden. Auch hier reagierten die Plattformbetreiber nach einigen Tagen mit Sperren; politischer Aktivismus sei nicht am rechten Platz in diesem Service-Ökosystem, ließ Google Wired auf Anfrage wissen.
Aktuell sind Google, Telegram, Tinder und YouTube die letzten »Brücken«, die vom abgeschotteten russischen Internet noch in den Rest der Welt führen, und auch die ukrainische Seite nutzt diese Kanäle, um in Russland Menschen zu erreichen. So hofft das belagerte Land, durch Veröffentlichung der Daten und Fotos von getöteten und gefangengenommenen russischen Soldaten und durch Bilder von zerstörerischen Bombardierungen auch in Putins Russland Widerstand gegen den Krieg zu mobilisieren. Man muss hoffen, dass ihnen Erfolg beschieden ist.