Eine neue Welt des »Information Workers« beschreibt Damianos Soumelidis, Managing Director Nagarro, im Gespräch über Führungsmodelle und die weiterhin angespannte Situation am IT-Arbeitsmarkt.
Die IT-Branche und auch IT-Abteilungen in Unternehmen aller Wirtschaftsbereiche: Allerorts werden Fachkräfte benötigt, die nicht nur die richtigen Skills haben, sondern auch engagiert und unternehmerisch handelnd den Wandel des Geschäfts der Kunden in Projektform bringen können. Jährlich 20 Prozent Wachstum strebt dazu das österreichische Management des internationalen IT-Dienstleisters Nagarro an. In Österreich soll dazu die Positionierung als Digitalisierungspartner für die Industrie gestärkt werden.
Dafür geht man durchaus unkonventionelle Wege: Im Rahmen einer Neuorganisation wurden Hierarchien auf ein Minimum reduziert, um Agilität und Eigenverantwortung der MitarbeiterInnen zu steigern – eine große Herausforderung nach der Fusion mit dem österreichischen Software-Dienstleister Anecon im Vorjahr. Mit Hilfe von umfangreichen Ausbildungsprogrammen – im Rahmen eines »Nagarro Curriculums« – setzt man auf die interne Qualifizierung von Mitarbeitern. Internationale Ressourcen – darunter neue Standorte in Malta und Dubai – sowie Kooperationen, etwa mit Nokia, Google und Microsoft, sollen das Geschäft sowohl international als auch am Standort Österreich stärken.
Report: Nagarro ist in den letzten zwölf Monaten stark auch in Österreich gewachsen. Wie geht es Ihnen derzeit – auch nach der Fusion mit dem Software-Testing-Unternehmen Anecon?
Damianos Soumelidis: Als wir mit unserem Unternehmen 2014 dazugestoßen waren, hatte Nagarro weltweit 2.500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Heute sind es bereits über 6.000. Österreich hat hier einen kleinen Anteil, mit dem Zusammenschluss mit Anecon haben aber auch wir einen für unsere Verhältnisse sehr großen Schritt gemacht. Gerade das Zusammentreffen einer so internationalen Firmenkultur mit einem lokal gewachsenen Unternehmen ist für alle Beteiligten eine Herausforderung, gleichzeitig aber eine Megachance.
Ich behaupte einmal, dass wir etwas anders ticken als der Großteil der Unternehmen. Wir setzen auf sehr flache Hierarchien und fordern von unseren Mitarbeitern stark Eigenständigkeit, unternehmerisches Denken und Eigenverantwortung ein. Das bedeutet bei neuen Mitarbeitern nicht nur Umbrüche in der Kultur, sondern auch in der Arbeits- und Denkweise. Es ist ein Erfordernis, um in dem Kontext, in dem wir tätig sind, erfolgreich zu sein. Die Ergebnisse zeigen ja auch, dass es funktioniert.
Wir wollen nicht unsere internen Abläufe in den Mittelpunkt stellen, sondern die Kunden und ihre Projekte. Darum herum werden dann Teams gebildet und Kompetenzen gebündelt, eben ohne starr definierte Abhängigkeiten und Strukturen, wie es bei größeren Organisationen üblich ist.
Das Wachstum von Nagarro soll auch lokal weiter vorangetrieben werden – wobei es den Begriff »lokal« in unserem IT-Geschäft kaum gibt. Was zählt, ist die Geografie der Kunden.
Report: Lockere Organisationsformen wünschen sich viele – wie sieht es dann aber mit der Schlagkraft eines Dienstleistungsunternehmens aus?
Soumelidis: Natürlich gibt es bei jedem Projekt auch einen Projektleiter und, gegenüber den Kunden, unsere »Delivery Manager«, die mehrere Projekten verantworten. Ich vermeide hier bewusst den Begriff »unter sich haben«. Die Projekte werden weiterhin straff und teilweise in der IT-Automatisierung auch hochprozessual durchgezogen. Für Freiheiten, wann etwas erledigt wird, ist kaum Platz. Trotzdem können wir eine gewisse Flexibilität mit agilen Arbeitsweisen einbauen.
Viele, die das bislang in ihrem Arbeitsalltag nicht gekannt haben, zeigen sich hier sehr offen und bereit, Veränderungen anzunehmen. Aber es passt sicherlich nicht für ausnahmslos jeden Menschen. Ein Jahr nach der Fusion sind wir auf gut 75 Prozent des Weges, wissen aber auch: 100 Prozent erreicht man nie. Der Großteil der Umstellungen ist jedenfalls abgeschlossen. Jetzt geht es um Feinheiten, die etwa Maßnahmen zu den Themen Leadership oder interne Ausbildungsmöglichkeiten betreffen. Dafür setzen wir zum Beispiel unsere »People Guides« ein.
Report: Sie setzen auf interne Weiterbildungsmöglichkeiten auch aufgrund des Fachkräftemangels in der IT?
Soumelidis: Es geht nicht mehr anders. Wir haben uns für heuer zum Ziel gesetzt, 40 neue IT-MitarbeiterInnen im Technikbereich aufzunehmen. Derzeit stehen wir bei 22 – das ist gar nicht einmal so schlecht – aber Senior-Kräfte sind trotz der Bereitschaft, gute Gehälter zu zahlen, fast nicht zu bekommen. Warum? Wenn jemand bereits gut im Geschäft ist, wird er bereits auch gut bezahlt und wird nicht wegen einem Tausender mehr den Arbeitsgeber wechseln. Andere wieder verdienen bereits 4.000 bis 4.500 Euro und verlangen dann das Doppelte. Kein Kunde ist bereit, solche Gehälter in der Kostenstruktur seiner Projekte zu übernehmen. Aber wer weiß – vielleicht werden auch diese Gehälter in ein paar Jahren in der IT-Branche üblich sein (lacht).
Aufgrund unseres großen Bedarfs setzen wir also auch auf weniger Erfahrene bis Junior-Level und ziehen diese mit unseren eigenen Ausbildungsprogrammen hoch. Bei wenigen Kandidaten kann man nebenbei gestalten, in dem man sie in gemischte Projektteams steckt. Sind es mehr, ist eine eigene Struktur mit einem Programm und entsprechenden Timelines notwendig. Zum Glück hatte Anecon das bereits im Testumfeld jahrelang praktiziert. Der Grund: Testen und vor allem Test-Automatisierung wird so gut wie nicht gelehrt. Weder auf Unis noch in Fachhochschulen steht Testing auf dem Lehrplan. Dabei wäre der Bedarf aus der Wirtschaft vorhanden. Jetzt erarbeiten wir auch ein Curriculum für klassische Softwareentwicklung, das im Herbst starten wird.
Report: Wie stehen Sie zu der Ansicht, Unternehmen sei ein Ausbildungsverhältnis von 9:1 zuzumuten – bei zehn Mitarbeitern sollte zumindest einer ausgebildet werden.
Soumelidis: Dieses Verhältnis war in den letzten Jahren mit einem klaren Ja zu beantworten. Heute ist allerdings die Überlast in den IT-Abteilungen ebenso wie bei den Anwenderinnen und Anwendern stark hinaufgegangen. Das bisschen Freiraum, das man früher hatte, um neuen Mitarbeitern etwas zu zeigen und beizubringen, wird immer weniger.
Selbst wenn man sich das aus den Rippen schneidet und eine Stunde täglich dafür bereitstellt – viele haben die Energie und die Geduld nicht mehr. Mit dem Anstieg des Drucks der Kunden auf die IT schwindet die Bereitwilligkeit, andere weiterzubilden. Wir stellen uns trotzdem dieser Verantwortung, auch aus einem Überlebenswillen heraus. Denn der Fachkräftemangel wird sich weiter verschärfen. In den nächsten Jahren werden Unternehmen aggressiv um jeden mittelmäßigen Java-Entwickler rittern.
Report: Wie sieht das Konzept der People Guides bei Nagarro aus?
Soumelidis: Die klassische Organisationsform von Unternehmen sieht Führungskräfte in einem kaskadierenden Modell vor: Das Management oben gibt die Richtung vor, und je größer die Organisation, desto zähflüssiger dringen Informationen in alle Ebenen. Bei international aufgestellten Konzernen kann es schon einmal ein halbes Jahr dauern, bis etwas in allen Geschäftsstellen angelangt ist. Doch die Verantwortlichkeiten sind hier klar geregelt – jeder kennt sich aus. Ein Nachteil ist die geringe Flexibilität. Möchte ich als Mitarbeiter mit bestimmen Kollegen und bei Projekten in anderen Abteilungen zusammenarbeiten, ist das von der Struktur her gar nicht möglich.
Im zweckorientierten Modell, wie wir es haben, arbeitet eine dynamisch zusammengesetzte und jederzeit auch veränderbare Gruppe einem bestimmten Zweck zu. Was hier zählt, ist weniger die Abteilung, aus der ein Mitarbeiter kommt, sondern es sind die im Moment nachgefragten Fähigkeiten. Das erfordert aber auch einen besonderen Fokus auf das Wohlergehen des Mitarbeiters, der ja nicht mehr ständig einer einzelnen Abteilung untergeordnet ist. Diese Begleitung übernehmen bei uns People Guides, die Führungskräfte im Sinne von Ausbildung, Weiterentwicklung und Wohlbefinden des Einzelnen sind, und durchaus aber auch kritische Mitarbeitergespräche führen – also auch Themen, die mitunter unangenehm sind.
Report: In welchem Zusammenhang sind flache Hierarchien mit den Anforderungen des Marktes zu sehen?
Soumelidis: Wir beschäftigen uns seit Jahren mit unterschiedlichsten Digitalisierungsprojekten und sehen, dass mehr und mehr Schnelligkeit und Know-how-Vielfalt gefordert ist. Diese lässt sich in starren Strukturen, die abteilungshierarchisch organisiert sind, viel schwieriger erreichen. Für uns ist auch die flexible Kollaboration mit unseren internationalen Kollegen wichtig. Für innovative Projekten, in denen weltweit verstreutes Expertenwissen notwendig ist, sind Abteilungen eher hinderlich.
So können wir etwa für den Kunden ÖBB mit unserem Hybrid-Shoring-Modell lokale Ansprechpartner in Österreich bieten und gleichzeitig im Hintergrund jederzeit auf unsere internationalen Ressourcen zugreifen. Projektteams werden nach Interesse der MitarbeiterInnen und ihren Skills zusammengesetzt. Das wird auch bei den Kunden anerkannt.
Die Welt dreht sich weiter und die Zyklen werden immer kürzer. Damit ist es wichtig, rasch die richtigen Leute zu einem Thema zusammenbringen zu können und auch bei einer plötzlichen Richtungsänderung schnell reagieren zu können.
Ich bin überzeugt, dass Unternehmen generell ihre Strukturen überdenken müssen. Das klassische Modell, wie seit 200 Jahren Mitarbeiter geführt werden, muss zumindest angepasst werden.
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Smart Glasses: mit Assisted-Reality-Funktion im Regeleinsatz bei ÖBB Postbus: Bei der Busabnahme sind Inspektoren verpflichtet, neu angeschaffte Busse zu inspizieren und einen Abnahmebericht vorzulegen. Bisher passierte dies analog. Mit der AR-Lösung können alle Anwendungen per Sprachbefehl gesteuert werden – für die Inspektion bleiben die Hände frei. Mängel werden per Audio aufgezeichnet, Bilder oder Videos beigefügt.