Samstag, Dezember 21, 2024
VR/AR made in Switzerland
Fotos: Rainer Sigl

Schweizer Firmen forschen und entwickeln ­Virtual- und Augmented-Reality-Lösungen für die ganze Welt – bis nach Hollywood. Eine Rundreise von Rainer Sigl.

Schweizer Schokolade, Schweizer Armeemesser, Schweizer Präzision, Schweizer Bankkonten: Für vieles ist das alpine Nachbarland Österreichs sprichwörtlich bekannt. Für State-of-the-Art-Technologielösungen im Bereich der VR und AR bislang allerdings nicht. Das könnte sich jedoch bald ändern, denn sowohl im universitären als auch im Startup-Bereich arbeiten Schweizer IT- und Hightech-Experten an Virtual-Reality- und Augmented-Reality-Produkten, die das Zeug haben, von der kleinen Schweiz aus die große Welt zu erobern.

Dabei bietet das Arbeiten und Forschen in der Schweiz ganz eigene Herausforderungen: Das Leben im Land mit den weltweit dritthöchsten Lebenshaltungskosten ist teuer, die Verlockung, sowohl Forschung als auch Entwicklung und Produktion in billigere Länder auszulagern, ist groß – vor allem in hochtechnisierten Branchen, in denen Teams oft global zusammenarbeiten. Eine Gegenstrategie ist das gut ausgebaute Förderwesen, mit dem die Schweiz auch ihre digitale Kreativindustrie im Land halten und weltweit positionieren will.

Diversität als Stärke
»Es gibt hier eine lange Designtradition, die Kreativität und Technologie verbindet«, sagt Sylvain Gardel, Leiter des Schwerpunkts Kultur & Wirtschaft bei der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia. Seit 2010 fördert die gut dotierte Stiftung, die 1939 als Organisation zur »Förderung der Geistigen Landesverteidigung« gegründet wurde, auch interaktive Medien – Games, Virtual Reality, Augmented Reality, Transmedia – gleichberechtigt mit anderen Kulturprodukten wie etwa Musik, Literatur und Theater.

Die Diversität des Landes mit den vielen Sprachen und Kulturen zeigt sich geradezu exemplarisch an den technischen Forschungs- und Ausbildungszentren der Schweiz: In Zürich bildet die weltberühmte Eidgenössische Technische Hochschule ETH 20.000 Studierende im technischen, mathematischen und naturwissenschaftlichen Bereich aus, während die Zürcher Hochschule der Künste ZHdK den kreativen Bereich abdeckt; das zweite große akademische Zentrum des Landes, die École polytechnique fédérale de Lausanne (EPFL), stellt gemeinsam mit der Kunstschule HEAD Campus in Genf die zentrale technische Ausbildungsstätte des französischsprachigen Teils des Landes dar.

Vom Labor in den Markt
Die Hochschulen sind Keimzellen für Hightech-Startups, die von staatlichen und privaten Inkubatoren bis zu fertigen Produkten herangeführt werden, vor allem aber: Labore, in denen im Rahmen des Studiums Neues probiert und erforscht werden kann. In Zürich tüftelt etwa das Game Technology Center der ETH an AR-Experimenten, die sowohl für die Wirtschaft als auch den kulturellen Bereich relevant sein werden.
Und die kann man sich sogar jederzeit ansehen: In einer eigenen, kostenlos für Android und iOS beziehbaren App stellt man unter dem Namen »GTC Showcase« experimentelle Augmented-Reality-Anwendungen vor, die das Smartphone zum AR-Fenster werden lassen.

Eine Kooperation mit dem Züricher Spielzeug-Spezialisten Franz Carl Weber ließ etwa den Weihnachtskatalog 2018 zu animiertem Leben erwachen. Weniger kommerziell, aber ebenso spannend ist das ebenfalls am GTC entwickelte Projekt »Behind the Art«: Gemeinsam mit dem Vaduzer Fürstlichen Kunstmuseum Liechtenstein entwickelten die Schweizer Forscher ein per Tablets realisierbares interaktives AR-Museumsführer-Tool, das die Gemälde Alter Meister zu interaktiven, animierten Kunstwerken macht. Augmented Reality als Killer-App für den boomenden Museums- und Ausstellungsmarkt: in Zeiten, in denen Audio Guides längst als Must-haves akzeptiert und verbreitet sind, ein logischer nächster Schritt.



Bild: Das in Vaduz, Liechtenstein, präsentierte AR-Projekt »Behind the Art« erweckt Alte Meister zu neuem Leben – als Museumsguide der Zukunft.

Schritt in die Vergangenheit
Gleich ganz ohne Museum kommen hingegen die beeindruckenden Projekte der Genfer Tech-Spezialisten Artanim Foundation aus. Das Genfer Non-Profit-Unternehmen erforscht und entwickelt hauptsächlich hochspezialisierte Motion-Capture-Verfahren, die unter anderem in der Medizin, aber auch in Hollywood heiß begehrt sind.



Bild: Ins Genf des Jahres 1850 entführt die VR-Experience des Genfer VR- und Motion-Capture-Spezialisten Artanim.

Das aus der NPO hervorgegangene Startup Dreamscape Immersive hat die Gründer des Genfer Motion-Capturing-Spezialisten, der inzwischen auch in Sachen VR heiß begehrt ist, bis nach Hollywood katapultiert, wo Ende 2018 in Los Angeles das erste von vielen geplanten VR-Entertainment-Zentren seine Tore öffnete.

Der Clou der »VR-Experiences« aus dem Hause Artanim: Statt allein mit VR-Headset in einer virtuellen Welt herumzuwandern, ist man dank präziser Erfassung durch Kameras mit bis zu drei weiteren Personen mittendrin in den digitalen Settings. Die von digitalen Avataren dargestellten Mitstreiter bewegen sich real auf einer Fläche von etwa 80 Quadratmetern, dank cleverer architektonischer Tricks kommt einem die VR-Welt aber viel größer vor.



Bild: In der VR-Experience »Geneva 1850« ist man virtuell zu viert unterwegs - mit echten Requisiten wie etwa einer »Pferdekutsche«.

Reale, handfest anfassbare Requisiten machen die Illusion perfekt, sich in einer anderen Welt zu befinden, wie die in Genf im Rahmen einer Ausstellung noch bis Mitte Juli zugängliche VR-Experience »Geneva 1850: A revolutionary journey« eindrucksvoll beweist: Von der Reise in einer wackligen, durch Hydraulikmotoren wirklich ratternden Pferdekutsche samt Rossapfel-Parfüm bis zur Fahrt im Fesselballon, bei der einem echter Wind um die Nase bläst, verschwimmen hier die Grenzen zwischen Realität und Virtualität.

Werkzeuge für VR
Das zum unaufhaltsam scheinenden Siegeszug der VR-Industrie passende Werkzeug liefert passenderweise ein anderes Genfer Hightech-Startup: Auch Imverse gelang aus dem Stand der Sprung in die internationale Welt der Hightech-Unterhaltungsbranche in Sachen VR, AR und MR – Mixed Reality.

Mit voxel-basierten Lösungen verspricht das mit dem Swiss Startup Award 2018 ausgezeichnete Unternehmen, das ein kommerzielles Spinoff der Polytechnischen Hochschule Lausanne ist, die Konstruktion von 3D-Welten für VR, aber auch für die Film und Videospielindustrie zu revolutionieren. Das Tool »Live Maker«ermöglicht die radikal vereinfachte Gestaltung von virtuellen Räumen auf Basis von simplen Fotografien, »Live Stage« wiederum bringt dank Voxel-Technologie per Kamera erfasste Menschen 1:1, ganz ohne die Verwendung von Polygon-Modellen, in VR-Umgebungen.

Auch Imverse hat den Sprung über den Atlantik vollzogen und arbeitet von Kalifornien aus mit einem eigenen Büro in Los Angeles daran, die Schweizer Tech-Startup-Szene von ihren bescheidenen lokalen Wurzeln aus zur globalen Bedeutung zu führen. Die Zukunft von VR, AR und aller anderen schon existenten oder auch nur angedachten Technologien mit »Reality« im Namen, daran zweifelt von Zürich bis Genf keiner, steht vor einem beispiellosen Siegeszug. Die kleine Schweiz ist vorne mit dabei.



Bild: Das Game Technology Center der ETH Zürich ließ den Weihnachtskatalog des Spielwaren-Spezialisten Franz Carl Weber in Augmented Reality zum Leben erwachen.

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