Stimmenfang mit Scheuklappen
Es ist Wahljahr in Deutschland, und die Familienministerin Ursula von der Leyen (CDU) hat ihren Coup gelandet: Das von ihr vorgeschlagene Gesetz zur Sperrung von Internetseiten mit kinderpornografischen Inhalten soll im Oktober beschlossen werden. Bereits im April hatten sich mehrere große deutsche ISPs auf von der Leyens Vorschlag hin dazu bereit erklärt, eine vom deutschen Bundeskriminalamt zusammengestellte Liste von einschlägigen DNS-Adressen für ihre Kunden zu sperren – statt der jeweiligen Webseite soll ein virtuelles Stoppschild im Browser erscheinen und den potenziellen Pädophilen auf die Strafbarkeit hinweisen. Dieses Vorgehen, so von der Leyen, solle das angebliche „Milliardengeschäft“ mit Kinderpornografie in Deutschland empfindlich erschweren.
Der Missbrauch von Kindern ist ein besonders schändliches Verbrechen, das die hilflosen Opfer für ihr Leben lang traumatisiert. Aus gutem Grund ist auch der Besitz von kinderpornografischen Bildern strafbar. Das entschlossene Vorgehen gegen derartige Straftäter im Netz müsste ja wohl jedem Bürger ein selbstverständliches Anliegen sein – und sollte im Wahljahr 2009 ein günstiges Konsensthema mit Law&Order-Dramatik bieten. Umso größer war das politische Unverständnis, als innerhalb nur einer Woche über 70.000 Bürger eine Online-Petition unterzeichneten, die sich gegen das geplante Gesetz richtet. Mit der Einrichtung einer derartigen Infrastruktur, so die Initiatoren, würde ein Präzedenzfall für Zensur weiterer unliebsamer Inhalte im Netz geschaffen, zumal die geheime Liste der zu sperrenden Seiten hinter verschlossenen Türen ohne Überprüfung durch unabhängige Gremien erfolgen solle. Außerdem würde der tatsächliche Zugang zu den Seiten durch die geplante DNS-Filterung nicht verhindert, sondern nur erschwert: Nur die strafrechtliche Verfolgung der Serverbetreiber selbst und damit das vollständige Entfernen der Inhalte aus dem Netz würde wirken, nicht das halbherzige Verstecken: Über 90 Prozent der einschlägigen Server befinden sich in westlichen Ländern, in denen eine strafrechtliche Verfolgung möglich wäre.
In den Reaktionen auf die wachsende Kritik zeigte sich die problematische Ahnungslosigkeit der Entscheidungsträger: Die technische Überwindung der Zugangsbeschränkung sei nur für technikversierte Internetnutzer möglich, also etwa für 20 Prozent – und diese seien, quasi im Umkehrschluss, schon allein wegen ihrer Technikkenntnisse verdächtig, „zum Teil schwer pädokriminell“ zu sein, attackierte die von ihren Gegnern „Zensursula“ genannte von der Leyen die Kritiker. Auch Wirtschaftsminister Karl-Theodor von und zu Guttenberg (CSU) unterstellte den Gegnern des Gesetzesvorhabens kurzerhand pauschal die Unterstützung von Kinderpornografie – ein starkes Stück, da sich sogar ehemalige Missbrauchsopfer öffentlich dem Protest gegen die als blanker Populismus angeprangerte Gesetzesvorlage angeschlossen und alle Kritiker stets die Verfolgung derartiger Straftaten niemals in Frage gestellt hatten.
Es spricht für die deutsche Diskussionskultur, dass auch Qualitätsmedien inzwischen offen die Fragwürdigkeit des populistischen Zensurprojektes mit kinderfreundlichem Deckmäntelchen diskutieren. Diese Diskussion offenbart aber auch die tiefe digitale Kluft, die zwischen einer Politikerkaste auf Stimmenfang und der digitalen Realität vor allem der jüngeren Generationen liegt. Ein Hinweis für Populisten: Letztere reagieren womöglich anders auf die reflexhaften Regulierungsforderungen als die technikferneren älteren Wählerschichten – und stellen früher oder später ebenso ein nicht unbeträchtliches Wählerpotenzial dar.
Notiz zum Schluss: Während beim großen Bruder Deutschland zunehmend Kritik am geplanten Gesetz laut wird, hat der oberösterreichische Landtag unlängst mit den Unterschriften von SPÖ, ÖVP und Grünen die Bundesregierung zum Beschluss eines ähnlichen Gesetzes in Österreich aufgefordert. Erraten: Auch in Oberösterreich wird 2009 gewählt.