Der Twitter-Effekt
Als im Iran Hunderttausende protestierten, sah man in den Fernsehnachrichten hauptsächlich eines: Journalisten, die aus ihren Hotelzimmern berichteten und über ihre vom iranischen Regime eingeschränkte Bewegungsfreiheit klagten. Die trotzdem allgegenwärtigen Bilder von der Straße kamen nicht von den untätig wartenden Pressekameras, sondern von der iranischen Protestbewegung selbst: in unzähligen verwackelten, aber dennoch schockierenden Bildern und Videos, die zum größten Teil mit billigen Kamerahandys aufgenommen und über das Internet verbreitet wurden. Dass die großen Medien sich zu Beginn sträubten, die Bilder aus unsicheren Quellen auszustrahlen, verhinderte nicht deren weltweite Verbreitung. Trotz rigoroser Sperren und teilweiser Abschaltung der Mobilfunknetze in den großen Städten des Iran schickten versierte iranische Internetnutzer per YouTube, Facebook und Twitter im Sekundentakt Updates, Fotos und Videos direkt hinaus in die Welt.
Der Iran glaubte sich ähnlich wie China eigentlich gut darauf vorbereitet, Kritiker im Netz ruhigzustellen: Mit umfangreicher Filtersoftware und Abhörlösungen, die pikanterweise hauptsächlich von europäischen IT-Riesen wie Nokia Siemens geliefert und installiert wurden, „schützt“ das Mullah-Regime seine Bürger seit vielen Jahren vor den schädlichen Einflüssen aus dem gottlosen Westen. Über fünf Millionen Webseiten wären in den letzten Jahren blockiert worden, schätzt „Reporter ohne Grenzen“, und zahlreiche kritische Mitglieder der trotzdem äußerst lebendigen iranischen Bloggerszene waren in den letzten Jahren ausgeforscht und zu drakonischen Freiheitsstrafen verurteilt worden.
Dass bei den Protesten trotz offizieller Nachrichtensperre und reihenweiser Ausweisung ausländischer Reporter dennoch eine wahre Flut an Nachrichten im Internet und in Folge auch in den klassischen Medien zu sehen waren, ist dem Erfindungsreichtum der iranischen Jugend zuzuschreiben. Mithilfe von Proxies und anonymisierenden Netzwerkprotokollen wie TOR oder Freegate unterliefen die technikversierten Demonstranten die staatlichen Sperren, koordinierten ihre Demonstrationen auf Twitter und Facebook, stellten Videos auf YouTube und riefen zur weltweiten elektronischen Unterstützung der Proteste auf. Die ließ nicht lange auf sich warten: Tausende Nutzer in aller Welt stellten ihre Twitter-Landes-Einstellungen um, um den staatlichen Zensoren die Suche nach den „echten“ Iranern in der User-Datenbank zu erschweren, färbten ihre Userbilder aus Solidarität grün ein oder stellten Proxies zur Verfügung.
Die großen Nachrichtennetzwerke wie etwa CNN funktionieren noch nach anderen Regeln: Obwohl weltweit vielleicht Millionen fassungslos die sich überstürzenden Ereignisse eine Woche nach den Wahlen auf Twitter verfolgten, berichtete CNN mangels autorisierter und überprüfter Nachrichten nur spärlich über die dramatischen Vorgänge – und zog sich durch diese Untätigkeit den Zorn der Webgemeinde zu. Mit dem Tag „#CNNfail“ versehene Tweets dominierten neben jenen mit dem Tag „#IranElection“ über Tage hinweg die Liste der am meisten betrachteten Twitter-Einträge. In seiner Zugänglichkeit und Unmittelbarkeit zeigte sich aber der Nachteil des „Twitter-Effekts“ -- in der verwirrenden Unübersichtlickeit der Postings, in denen auf jedes halbwegs handfeste Faktum hundert hysterische Falschmeldungen, Gerüchte, Wiederholungen oder gezielte Fehlinformationen kamen. Twitter, so viel kann trotz aller Medienhypes getrost gesagt werden, ist sicher nicht das „CNN der Netz-Generation“, wie übereifrige
Netzapologeten wiederholt behaupteten.
Doch abgesehen vom faktischen Wahrheitsgehalt passierte in diesen Tagen auf Twitter dennoch etwas historisch Bemerkenswertes: Mit Schrecken und Gänsehaut verfolgten Menschen in aller Welt die Entstehung eines Mosaiks aus Geschichte, Chaos und Revolution. Die politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen dieses jähen Einblicks in ein historisches Ereignis, aus persönlichsten Perspektiven und in Echtzeit, sind noch bei weitem nicht absehbar. Die Zeiten der nach außen hin „sauberen Kriegsführung“ ohne verstörende Bilder, wie sie von den USA im ersten Irakkrieg noch versucht wurde, sind allerdings für immer Geschichte – auch das ist ein Verdienst der fortschreitenden Digitalisierung und Vernetzung der Welt.