Allgemein gilt als Erklärung für diese Divergenz, dass in den USA neue Förder-Technologien, insbesondere die des Fracking, das Angebot von Öl und Gas bei vertretbaren Kosten massiv gesteigert haben. Energie ist ein bedeutender Kostenfaktor, sinkende Energiekosten steigern die Wettbewerbsfähigkeit einer Volkswirtschaft. Gleichzeitig wird dadurch das Konsumpotenzial erweitert.
Die Export-Fertigung ist jetzt zum ungekürten Helden der US-Wirtschaft geworden, schreiben Harold L. Sirkin, Michael Zinser und Justin Rose von der Boston Consulting Group. Trotz aller öffentlicher Aufmerksamkeit hinsichtlich des amerikanischen Handelsbilanzdefizits findet bisher die Tatsache wenig Beachtung, dass die Exporte seit 2005 sieben mal schneller gewachsen sind als das BIP und jetzt im Verhältnis zum gesamten Wirtschaftsleistung auf dem höchsten Stand der zurückliegenden 50 Jahre sind.
Das sei aber erst der Anfang, fahren die Autoren fort. Sie prognostizieren, dass die USA als Ergebnis ihrer zunehmenden Wettbewerbsfähigkeit in der Fertigung anderen Nationen bis zum Ende der Dekade 70 bis 115 Mrd. Dollar an jährlichen Exporten wegnehmen. Etwa zwei Drittel könnten durch Verschiebungen von Europa und Japan zustande kommen. Bis 2020 könnte die Fertigungs-Industrie in Verbindung mit einer “Repatriierung” von Fertigungsstätten aus China 2,5 bis 5 Millionen neue Arbeitsplätze schaffen.
Die USA dürften sich stetig zu einem Billig-Lohn-Land in der entwickelten Welt mausern. Die Studie schätzt, dass bis 2015 die durchschnittlichen Fertigungskosten in Deutschland, Japan, Frankreich, Italien und Großbritannien 8 bis 18% höher liegen werden als in den USA. Die stärksten Triebkräfte dieser Entwicklung kommen dabei von den Produktivitäts-bereinigten Arbeitskosten, den Kosten für Gas und Elektizität. Gestützt wird dieser Wandel auch durch sinkende Transportkosten. (Aktien haben darauf reagiert: Der Dow Jones Transportation Index hat Monate vor dem Dow Jones Industrial Average und dem S&P 500 neue Allzeithochs erreicht.)
Beobachter halten es für möglich, dass die USA bis zum Ende der Dekade hinsichtlich Energie mehr oder weniger Selbstversorger sind und ab den frühen 2020er Jahren eine positive Handelsbilanz vorweisen können.
Dies hat Auswirkungen auf die heutzutage wichtigsten Handelsbeziehungen, dem Kauf von OPEC-Öl und dem Kauf von in Asien gefertigten Waren. Beide Transaktionen sind im wesentlichen Dollar-basiert, über 80% der globalen Handelstransktionen werden in Dollar abgewickelt. Das führt dazu, dass die Menge an Dollar deutlich sinkt, die das Land verlässt.
Das Handelsbilanzdefizit liegt aktuell bei 39 Mrd. Dollar, Mitte 2006 lag es bei über 65 Mrd. Dollar, Mitte der 1990er lag es bei mageren 10 Mrd. Dollar. Es hat in den zurückliegenden 17 Jahren entscheidenden Einfluss auf den Welthandel gehabt.
Handelsbilanzdefizite gleichen sich weltweit entweder durch Überschüsse anderer Länder aus, oder durch Anpassungen der Wechselkurse. Dass der Dollar nicht (stärker) unter Druck kam, ist der Tatsache geschuldet, dass die Nachfrage nach ihm mit expandierendem Welthandel so groß ist (s.o.).
Das sinkende US-Handelsbilanzdefizit schlägt sich auch in der Leistungsbilanz der USA nieder, deren Defizit sich bezogen auf das BIP seit 2006 von minus 6% auf minus 3% halbiert hat. Ein sinkendes Leistungsbilanzdefizit bedeutet eine weltweit sinkende Dollar-Liquidität und hat damit entscheidenden Einfluss auf die globale Liquiditätssituation. Der folgende Chart (Quelle: BIS Working Papers 424 – Global and euro imbalances: China and Germany) zeigt die Rolle der USA als Liquiditätslieferant über Dekaden, er zeigt aber auch, wie sie ab 2008 abgenommen hat.
Geht das so weiter, stellen sich zwei Fragen: Erstens expandiert der Welthandel weiter? Wenn ja, welche Reservewährung könnte den Dollar langfristig ablösen? Mancher Beobachter sieht die chinesische Währung als Kandidaten, die auf längere Sicht in die Bresche springt und den Dollar (teilweise, v.a. in Asien) als Liquiditätsvehikel ablöst. Die Briten bauten Hong Kong 1997 zu einem Finanzzentrum aus, dessen Bedeutung stetig zunimmt. China internationalisiert langsam aber sicher die eigene Währung; es fährt die Kapitalverkehrskontrollen zurück und schafft liquide Kapitalmärkte. Dabei spielt Hong Kong eine wichtige Rolle. Ein weiteres Anzeichen für eine solche „Öffnung“ ist eine (regulierte) Freihandelszone in Shanghai, die gestern gestartet wurde. Es handelt sich um eine Art Testumgebung, in der bestimmte Regulierungen gelockert werden.
Expandiert der Welthandel nicht mehr so weiter wie in den zurückliegenden Jahrzehnten, so stellen sich andere Fragen. Für eine De-Globalisierung gibt es gegenwärtig aber noch keine belastbaren Anzeichen, es sei denn, man sieht im Verlauf der weltweiten Leistungsbilanzdefizite genau das. Beim Welthandel ist immerhin zuletzt auch ein Tempoverlust festzustellen, der zusammenfällt mit der Reduktion des US-Handelsbilanzdefizits (siehe Chart oben!).
Die vorne angerissene Entwicklung der USA dürfte in jedem Fall die wirtschaftlichen Verhältnisse im Weltmaßstab gravierend beeinflussen. Die USA sind für solche Veränderungen nicht schlecht gerüstet – auch aus Gründen, die hier diskutiert werden.
Wenn das Leistungsbilanzdefizit der USA weiter schrumpft, sind die Emerging Markets von der internationalen Liquiditätsverknappung unmittelbar betroffen. Bezeichnenderweise haben sich dieselben asiatischen Notenbanken, die seinerzeit vor den Folgen einer Ausweitung der QE-Maßnahmen gewarnt hatten, kürzlich gegen deren Drosselung ausgesprochen. Die Bedeutung Chinas im Finanzgeschehen insbesondere in Asien dürfte jedenfalls deutlich zunehmen, insbesondere wenn die USA den eingeschlagenen Weg weiter geht.