Freitag, November 22, 2024

Volltransparenz: Retter der Demokratie?

Wer macht EU-Politik und wie wird diese beeinflusst? Europa steht unter dem Generalverdacht, dass die Einflussnahme von Lobbys zu groß sei. Dieser Verdacht nährt sich auch aus dem Nicht-Wissen um politische Entscheidungsprozesse auf EU-Ebene. Deshalb hat die Europäische Kommission neue Transparenzregeln eingeführt. Nunmehr werden alle Termine, die ein Kommissar oder seine Mitarbeiter mit Interessensvertretern führen, registriert und veröffentlicht. Nicht erfasst werden damit aber Kampagnen von diversen NGOs, die sehr effektiv Politik beeinflussen können. Wird dadurch EU-Politik für den Einzelnen transparenter?

Politik findet gemeinhin im öffentlichen Diskurs und im Austausch mit Betroffenen und Interessierten statt. Politische Entscheidungen werden nicht im Elfenbeinturm getroffen – besser gesagt: Sie sollten nicht. Das bedeutet aber auch, dass politische Entscheidungen »von außen« mitgestaltet werden. Wobei: »Von außen« ist schon ein irreführender Begriff, denn schon Hannah Arendt meinte sinngemäß richtig: Alles im Leben ist politisch. Die Trennung von »der Politik« und »den Bürgern« ist daher eine willkürliche und falsche. Zugegebenermaßen fand europäische Politik stets ein wenig fernab der öffentlichen Wahrnehmung statt. Örtliche Distanz, Komplexität, aber auch schlichtweg Ignoranz im Sinne von Nicht-Wissen und Desinteresse sind dafür Gründe. So wie für einen Vorarlberger Wien und damit die Bundespolitik auf der Landkarte und im Kopf weit weg sein kann, so ist »Brüssel« und damit die EU-Politik an sich noch mal weiter weg. Dabei ist auch hier eine falsche Wahrnehmung vorherrschend: EU-Politik wird in den Hauptstädten zumindest im gleichen Maße gemacht wie in Brüssel. Der Rat, also der Zusammenschluss der Staats- und Regierungschefs und der Minister, war (und ist es teilweise auch noch immer) mächtiger in seiner Mitbestimmung als das EU-Parlament.

An der kurzen Leine der Lobbys?

Dem Einzelnen erscheint »die EU« also als fern, abstrakt und zu kompliziert. Wer sich mit europäischer Politik nicht aktiv beschäftigt, dem erscheinen die politischen Entscheidungen als nicht nachvollziehbar und intransparent – dominiert von ein paar wenigen, insbesondere Lobbyisten. Und tatsächlich: Interessensvertretung auf europäischer Ebene wird tatsächlich immer professioneller und ist aus Brüssel schon längst nicht mehr wegzudenken. Aber wird EU-Politik wirklich hauptsächlich von Lobbyisten gemacht? Jein. Jein, weil wenn Interessensvertreter gut und glaubwürdig argumentieren und agieren, werden sie von den Gesetzgebern schon auch gehört. Jein, weil es eben durch die Demokratie und das System der »Check and Balances« der drei Institutionen ausgeschlossen ist, dass eine einzelne Lobby ihre Interessen von A bis Z durchsetzen kann. Ein gutes Beispiel ist ATTAC und seine Kampagne zur Einführung der Finanztransaktionssteuer. Durch geschicktes Kampagnisieren und Argumentieren und im Verbund mit anderen Lobbys gelang es, dass die Kommission diese Idee übernahm. Im Rat wiederum gab es jedoch Einspruch gegen den Vorschlag, da er den Interessen einiger Mitgliedstaaten zuwiderläuft. Dennoch wird gemeinhin Wirtschaftslobbys ein höherer Einfluss zugeschrieben als anderen Lobbyingverbänden, zum Beispiel aus dem Umwelt- oder Sozialbereich. Dabei wird üblicherweise die Finanzkraft, die hinter Unternehmen oder Wirtschaftsverbänden steht, als Beleg genommen. Im Vergleich seien die Budgets von NGOs sehr viel kleiner und diese daher machtlos im Match »gegen die Wirtschaft«.

Anti-Kampagnen mischen mit

Dafür haben NGOs eine andere Währung, die sich mit Geld kaum aufwiegen lässt: ihre Glaubwürdigkeit. Politiker, so wie »normale« Menschen wohl auch, glauben einer Aussage einer Umwelt-NGO mehr als einem Unternehmen, denn diesem wird eher Eigeninteresse unterstellt als einer NGO. Des Weiteren ist das Mobilisierungspotenzial einer NGO ungleich höher: Bürger, Mitstreiter und Meinungsführer lassen sich im Dienste einer vermeintlich guten Sache gut mobilisieren, um zum Beispiel Petitionen zu unterschreiben oder auf Kundgebungen zu gehen. NGOs können also mit einer guten Strategie und wenig Geld eine durchschlagskräftige Kampagne umsetzen, um politisches Bewusstsein zu erzeugen. Eine der ersten Entscheidungen des neuen Kommissionspräsidenten Juncker war die Selbstverpflichtung, dass die Kommissare und ihre Kabinette sämtliche Termine, die mit Interessensvertretern stattfinden, öffentlich bekannt geben. Für viele Kritiker war das eine langjährige Forderung, um den Einfluss von Lobbys auf die Kommission zu dokumentieren Junckers Kalkül war wohl, durch gelebte Transparenz genau diese Diskussion zu beenden. Nach dem Transparenzregister ist das nun ein weiterer Schritt in Richtung transparenter Interessensvertretung. Was jedoch von all diesen Regeln nicht erfasst wird, sind andere Formen von Beeinflussung, wie zum Beispiel von Kampagnen. Diese werden immer mehr von professionellen Dienstleistern geplant und durchgeführt, also Unternehmen, die damit Geld verdienen. Dementsprechend professioneller und effektiver werden solche Kampagnen, man siehe jene gegen das Freihandelsabkommen TTIP, das Anti-Piraterieabkommen ACTA oder andere umstrittene politische Vorhaben. Subsumieren kann man solche Manöver unter »Anti-Kampagnen«. Sie haben gemein, dass sie selten »für« etwas lobbyieren, sondern fast ausschließlich »gegen« bestimmte Vorhaben auftreten: Primäres Ziel ist, diese zu verhindern. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung zitierte unlängst einen solchen Kampagnendienstleister, auf die Frage wen sie damit beeinflussen wollen, mit den Worten: »Wir suchen diejenigen, die am ehesten politisch umfallen.« Einflussnahme also explizit erwünscht.

Eigenengagement erforderlich

Damit zeigt sich schön das Dilemma, vor dem wir nun stehen. Natürlich will man wissen, wie Entscheidungen getroffen werden und vor allem, dass sie sauber, also ohne Korruption, zustande kommen. Etliche Korruptionsfälle haben hier verständlicherweise Zweifel aufkommen lassen. Nur wird eine totale Transparenz nie möglich sein, wie der Einfluss von Kampagnen auf die Politik zeigt. Wie will man diese messen oder erfassen? Es führt kein Weg daran vorbei: Nur wenn Europa nicht mehr nur in Brüssel, sondern auch in den Köpfen der Bürger stattfindet, wenn sich der Einzelne aktiv damit auseinandersetzt, wird auch die europäische Demokratie lebendig und automatisch verständlicher. Durch Engagement und aktives Verfolgen von europäischer Politik wäre jedem schnell klar, dass diese um einiges transparenter und offener gestaltet wird als in so manchen Mitgliedstaaten.

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