Land der Ströme
Wer bei der Fußballeuropameisterschaft im vergangenen Sommer die Österreicher im Wiener Praterstadion ehrenhaft verlieren sehen wollte, konnte mit der U-Bahn bequem anreisen. Lediglich das Verlassen der Stätte des Euphorietaumels wurde etwas gestört, setzte sich doch eine Menschenmenge von gut 22.000 Fahrgästen gleichzeitig vom Oval in Richtung U2-Station »Stadion« in Bewegung. Vor den Toren des kleinen U-Bahnhofes fand daraufhin ein beinahe lebensbedrohliches Gedränge statt. Im Stationsinneren dagegen ging es wieder ruhig, gesittet und entspannt zu. Man hätte ein Picknick auf den Bahnsteigen veranstalten können – manch U-Bahn-Gast wünscht sich in der täglichen Rush-Hour heute noch die Ruhe und Ordnung von damals wieder herbei. Der geordnete Abzug der Zuschauer war Ergebnis eines neuen Konzepts, das technische und soziologische Disziplinen mit baulichen Maßnahmen vereint. Der Name des sogenannten Regel- und Dosiersystems, das in der U2 erstmals zum Einsatz kam, ist »RAVE« und wurde von arsenal research in Zusammenarbeit mit den Wiener Linien entwickelt.
In jenem Fall werden bei Großveranstaltungen im Ernst-Happel-Stadion die regulären Zugänge zu den Bahnsteigen der U2-Station gesperrt. Basierend auf speziellen Regelkriterien und von Sensoren erfasste Personenanzahlen werden dann die optimalen Türbreiten in den Eingängen der Station und Zahl der benötigten Züge ermittelt. Die Echtzeitsimulation des Fahrgaststromes dient zur Maximierung des Besucherdurchsatzes und kann kritische Situationen am Bahnsteig vermeiden. Das Ergebnis: Der Abtransport von 22.000 Fahrgästen wurde im Sommer von den Wiener Linien in gut einer Stunde bewältigt. Eine weltweite Meisterleistung, die nicht nur mit dem »Staatspreis Verkehr 2008« bedacht wurde, sondern seither Delegationen aus fernen Ländern anzieht. Zuletzt stiegen Interessierte aus Südafrika in die U2. Die Planungen zur Abwicklung der Besucherströme anlässlich der WM 2010 laufen auf Hochtouren. Ezzes aus Wien sind dabei mehr als willkommen.
Neue Ansätze gefunden
Eine der Forscherinnen rund um Analysen und Planungen stark frequentierter Infrastrukturen ist Katja Schechtner. Die Mitarbeiterin bei arsenal research war jahrelang in einem Stadtplanungsbüro in Nagasaki tätig und hat nach ihrer Rückkehr den Bereich »mobility« in dem Forschungszentrum aufgebaut. Mit mittlerweile 25 Mitarbeitern spricht Schechtner nun Verkehrsbetreiber und Bauherren an, die aus Daten zum Bewegungsverhalten von Fußgängern eine Basis für Planung von Gebäuden benötigen. Die Forscherin brach gleich zu Beginn mit althergebrachten Methoden: statt Besucher über Stricherllisten zu zählen, setzt ihre Mannschaft auf Videoauswertungen, GPS-Erfassung, Kamerasensoren, Lichtschranken, Infrarot, spezielle Fußmatten und gut noch einmal so viele Methoden.
»Unsere Kompetenz umfasst nicht eine Technologie, sondern alle«, ist Schechtner von der Präzision ihrer Datenerfassungen überzeugt. Die Informationen fließen in eine Software ein, die ein räumlich-zeitliches Muster in einer übersichtlichen Form veranschaulicht. Architekten und Planer könnten so böse Überraschungen vermeiden und Räume, Treppenhäuser und Gänge an die erwarteten Bedürfnisse der Fußgänger anpassen. Diese Orientierung nach Besucherströmen ist ein fundamental wichtiger Ansatz, betont die Forscherin. Für Geschäftsbetreiber in einem Einkaufszentrum etwa bestimmt die Fußgängerfrequenz die Attraktivität eines Shops oder Restaurants. Auch geht es beim Durchspielen der verschiedensten Szenarien um Security: So können mithilfe von Simulationen die Dichte von Menschenmengen, die Sicherheit im Evakuierungsfall oder das Auftreten von Staus ermittelt werden.
Den Forschern geht ebenso wie den Architekten um eines: Die Menschen sollen sich in den Gängen, Bahnsteigen und sogar an Kreuzungspunkten in Gebäuden wohl fühlen. Der kommerzielle Hintergedanke: Wer sich beispielsweise an einem Flughafen dank guter Leitsysteme und vernünftiger Wegekonzepte geborgen fühlt, hat auch Zeit und Muße, nebenher shoppen zu gehen. Statistiken zufolge wird in den Geschäften im Terminalbereich des britischen Flughafens Heathrow viermal so viel Umsatz generiert, als Start- und Landegebühren einbringen. Auf eigens veranstalteten Kongressen zum Thema »Passenger Terminals« wird weiter gerechnet: Der europäische Flughafenbesucher gibt durchschnittlich 5,20 Euro in den Terminals aus. Könnte dieser Wert um lediglich zwanzig Cent gesteigert werden, winken Umsatzgewinne in Milliardenhöhe. »Wenn man sieht, wie sich Änderungen der unterschiedlichsten Parameter auf den Passagierfluss auswirken, lassen sich Optimierungspotenziale gezielt ausschöpfen«, ist das allgemeine Wording dazu.
Das wird in Zukunft auch notwendig sein, betont Schechtner. Schließlich werden einer neuen EU-Richtlinie zufolge die Zeiten für Check-in und Security bei gleichzeitig erhöhten Sicherheitsstandards auf den Flughäfen deutlich verkürzt werden müssen. Die Bedürfnisse im Besucherstrom sind bei aller Regelwut höchst unterschiedlich, der Wohlfühlfaktor der Menschen stets subjektiv. Abhängig vom Alter, Geschlecht, der Anzahl der Fußgänger, der Gehdichte und Schrittgeschwindigkeit ist selbst in Simulationen eine ständige Dynamik zu spüren. Die Parameter sind auch demografischen Entwicklungen unterworfen. Schechtner, die auch selbst Architektin ist, weiß um die Anforderungen an Verkehrsmittel und Gebäude in einer Gesellschaft mit einer älteren Bevölkerungsstruktur. So hätte Japan den Europäern eine »Akzeptanz der körperlichen Schwäche des Menschen« voraus. Ein Umstand, der auch in Österreich in naher Zukunft zum Thema wird. So ist die Umgebung der Wiener U-Bahn heute auf die körperlich fitte Zielgruppe der 20- bis 45-Jährigen zugeschnitten. »In einer alternden Gesellschaft verunsichern Türöffnungszeiten mit Intervallen von acht bis zehn Sekunden die Nutzer, auch Rolltreppen werden plötzlich zu unüberwindbaren Hindernissen«, ist die Analyse- und Simulationsarbeit auch für arsenal research noch lange nicht zu Ende.
Stets gilt es, die Bedürfnisse der Menschen zu identifizieren und so größeren Verkehrsströmen vorrangige Wege zu bieten – etwa an Bahnhöfen, wo die Nutzer ankommender Züge wesentlich schneller durch die Infrastruktur geleitet werden müssen als abreisende Bahnfahrer. Letztere kommen in der Regel nicht gleichzeitig am Bahnhof an. Ein wesentliches Augenmerk legen die Forscher zudem auf Toleranzgrenzen im Abstand der Fußgänger zueinander. Sie bestimmen, wie hoch die Dichte in dem Verkehrsstrom sein darf, bevor Menschen beginnen, sich unwohl zu fühlen. Die Schwelle in Japan dafür ist vergleichsweise niedrig. Sie liegt kulturell bedingt bei lediglich 2,5 bis zehn Zentimetern – eine Distanz, die Menschen in der westlichen Hemisphäre den Schweiß auf die Stirn treiben würde. Freilich hängt auch diese Grenze stark von der Umgebung ab. »In einem Einkaufszentrum lassen wir geringere Schrittgeschwindigkeiten zu. Dafür sind Benutzer von Verkehrsmitteln toleranter in den Abständen zu ihren Mitmenschen«, zählt sie Argumente und Regeln auf, die schlussendlich zu Gebäudekonzepten gezimmert werden. Und auch die Forscher haben trotz fünfjähriger Arbeit noch nicht den Plafond ihrer wissenschaftlichen Arbeit erreicht. Schließlich würde sie »am liebsten das Beamen erfinden«, lacht die Forscherin.