Sonntag, Dezember 22, 2024

Infiziert

Die Finanzmärkte zeigen Anzeichen von Panik. Der S&P 500 hat mit den jüngsten sechs Verlusttagen in Folge die schärfste Korrektur in seiner Geschichte hingelegt. Gleichzeitig notiert die Rendite der zehnjährigen TNotes mit 1,3% so tief wie noch nie, das gilt auch für die Rendite der 30-jährigen TBonds mit unter 1,8%. Und der Goldpreis kennt kein Halten mehr.

Die Medien sind voll von Horror-Szenarien, die mit dem „Corona“-Virus in Verbindung stehen. Während die Zahl neuer Infektionen in der VR China zurückzugehen scheint, breitet sich der Virus in anderen asiatischen Ländern aus und hat nun auch Europa erreicht. Italien ist momentan am stärksten betroffen, aber auch in Deutschland steigen die Fallzahlen deutlich an. Die USA scheinen momentan noch wenig betroffen, was schwer nachvollziehbar ist angesichts der großen asiatischen Gemeinden in Städten wie z.B. New York und San Francisco.

Die Epidemie ist dabei, sich zu einer Pandemie zu entwickeln. Die wirtschaftlichen Auswirkungen könnten verheerend sein. Dabei werden immer wieder die eng verzahnten Lieferketten ins Gespräch gebracht, die zu einem wesentlichen Teil in der VR China verankert sind. So die Argumentation.

Die Zahl derjenigen Erkrankten, die die Infektion nicht überlebt haben, ist verglichen mit einer Grippewelle gering. Allein in Deutschland sterben pro Jahr einige zehntausend Menschen an Grippe. Bisher sind weltweit wahrscheinlich nicht einmal 5000 „Corona“-Tote zu beklagen. Mag sein, dass „Corona“ besonders leicht übertragbar ist und deswegen eine besondere Gefahr darstellt. Trotzdem erscheint mir die Aufregung in den Medien übertrieben zu sein.

Die Aktienmärkte haben den Ausbruch von „Corona“ in der VR China einige Wochen lang ignoriert. Der S&P 500 ist z.B. seit Mitte Dezember noch um rund sieben Prozent gestiegen. Am Mittwoch, den 19. Februar, markierte der Index bei 3386 ein Allzeithoch, dann begann der Kursrutsch um zur Stunde 14%. Die Renditen begannen ihren Sinkflug schon früher, die TBond-Kurse sind seit der zweiten Dezemberhälfte um 7,7% gestiegen.

Viele sehen „Corona“ als den größten exogenen Schock in der Geschichte der Finanzmärkte seit Ende des Bretton Woods Systems. Ich würde sagen, aus der größten Aktien-Blase seit dieser Zeit wird gerade die Luft abgelassen. Eine Korrektur stand ohnehin bevor, das Virus diente als perfekter Katalysator. Insofern haben wir es hier nicht so sehr mit einem Schock von außen zu tun, sondern mit „hausgemachten“ Ursachen. Das Virus ist ein hinzukommender Faktor.

Was war das Umfeld, in dem der S&P 500 vor zwei Wochen seine Korrektur einleitete? Am Tage des jüngsten Allzeithochs wurde das Protokoll der jüngsten FOMC-Sitzung veröffentlicht. Viele Akteure hatten sich davon Aufschluss erhofft, ob die Fed ihr QE-Programm, das man nicht so nennen darf, über den März hinaus fortsetzt (siehe hier!). Die Hoffnung war vergeblich, die Kursreaktion am Folgetag war aber eher zu vernachlässigen. Am Freitag derselben Woche wurde dann der Composite Flash-PMI der USA für Februar veröffentlicht. Und der hatte es in sich – der Ausstoss kontrahierte zum ersten Mal seit Oktober 2013, auch die Geschäftsaktivitäten im Dienstleistungs-Sektor fielen auf ein 76-Monats-Tief.

Tempoverlust bei den US-Makrodaten gibt es schon länger. Der Index der Industrieproduktion dreht nach unten ab, der jährliche Zuwachs an Arbeitsplätzen liegt nahe dem Tief in der Zeit seit Mitte 2011. Auch die zweite Schätzung des US-BIP für das vierte Quartals 2019 ergab kein grundsätzlich anderes Bild als hier bereits dargestellt. Weitere Quartale mit schwachem Wachstum sind zu erwarten (und waren es eben auch vor „Corona“ schon).

Über die zurückliegenden vielen Monate ist die Schere zwischen Wirtschaftsausblick und Aktienkursen immer weiter aufgegangen. Die jährliche Veränderung der Gewinnrendite ist seit Oktober, die der Dividendenrendite seit Dezember negativ. Rekordverdächtige Kurs-Gewinn-Verhältnisse lassen sich da nicht lange durchhalten.

Ein KGV der zehnjährigen TNotes von über 60 ist demgegenüber auch nicht attraktiv, aber das ist gerade die Besonderheit der aktuellen Situation. Wir befinden uns in einer „everything-Bubble“, wie es so schön heißt, über die zurückliegenden zehn Jahre von den Zentralbanken herangezüchtet. Und das erklärt auch zum Teil die besondere Heftigkeit der Kursbewegungen. Der Spielraum der Zentralbanken ist nach der immerwährenden Geldflut gering. Dementsprechend gibt es Zweifel, dass diese Institutionen es schon richten werden, mit den Konsequenzen einer möglichen Pandemie fertig zu werden.

Die neu geschaffene Zentralbank-Liquidität fließt im Rekordtempo weiter in Anleihen. Dadurch werden die Spreads gering gehalten – zumindest so lange die Zuflüsse nicht abreißen. Das macht angesichts einer Ausbreitung von „Corona“ zu erwartenden Pleiten im Transportgewerbe, bei Energieunternehmen, im Tourismus und anderswo zwar keinen fundamentalen Sinn, zeigt aber, wie sehr die durch die Geldflut der zurückliegenden Jahre manipulierte Zinslandschaft ihre Aussagekraft verloren hat.

Nicht unwahrscheinlich, dass die TBond-Renditen nun auf Sicht von vielleicht zwei Jahren die Marke von einem Prozent ins Visier nehmen und die Rendite der zehnjährigen TNotes dann bei 0,5% liegt.

Es gibt noch ein Argument, warum die aktuellen Turbulenzen vorprogrammiert waren und nur am Rande mit „Corona“ zu haben. Im Mai 2019 gab es Phasen einer Inversion bei der Zinsstruktur. Üblicherweise dauert es 15 Monate, bis sich eine invertierte Zinsstruktur in den Unternehmensgewinnen bemerkbar macht. Dies hat Tom McClellan hier sehr schön gezeigt.

Die Firmenprofite sind nun einmal die hauptsächliche Triebkraft für die Aktienkurse. Wenn hier nachhaltige Schwäche aufzieht, folgen die Kurse über kurz oder lang. Im S&P 500 haben wir im dritten Quartal 2018 mit mehr als 25% das Topp des jährlichen Gewinnzuwachses im laufenden Konjunkturzyklus gesehen. Im vierten Quartal folgte ein Kurseinbruch. Dann stieg der S&P 500 nochmals um fast 45%, dabei kommen wir aktuell nur noch auf ein Gewinnwachstum von rund 2,5% pro Jahr.

Nach der Beobachtung von Tom McClellan wäre in normalen Zeiten irgendwann im dritten Quartal mit dem Beginn einer Gewinnrezession zu rechnen gewesen. Der Anteil der Gewinne am BIP bewegt sich aber bereits seit Anfang 2012 abwärts. Auch das zeigt, wie fragil die Entwicklung der Unternehmen nach der Finanzkrise tatsächlich war und ist. Dementsprechend heftig muss dann irgendwann die Reaktion ausfallen (Chartquelle).

Was glauben Sie, was angesichts dieser Situation jetzt fundamental angemessen ist? Vielleicht ein Stand im S&P 500 bei 2700 – vorausgesetzt, es ist sonst alles, wie es war. Ich habe mich hier mit der aktuellen Chart-Lage im S&P 500 beschäftigt.

Und hier spielt wieder „Corona“ hinein, wenn auch hauptsächlich als Trigger für anderweitige Probleme. Die internationale Arbeitsteilung ist mittlerweile so stark ausgeprägt und die Pufferlager sind so weit minimiert, dass schon kleine Erschütterungen in den Lieferketten zu großen Problemen führen. Da die Notenbanken nur noch wenig Manövrierraum haben, wäre die Politik gefragt. Abgesehen davon, dass die Rettungsringe für marode Banken den Staaten nach 2008 auch einen Großteil ihrer Möglichkeiten genommen haben – angesichts der politischen Verwerfungen in und zwischen den großen Industrienationen fällt es schwer, hier effektive Maßnahmen zu erwarten (so denn welche nötig wären bei einer wirklich katastrophalen Entwicklung bei „Corona“).

Man kann auch ganz bösartig argumentieren: „Corona“ kommt wie gerufen. Das Virus gibt den Anlass für die großen liquiditätssüchtigen Akteure an den Finanzmärkten, Gewinne vom Tisch zu nehmen. Und setzt die Zentralbanken, insbesondere die Fed, unter massiven Druck, mit ihrer Geldflut über März hinaus fortzufahren. Je tiefer die Kurse, je größer der Druck. Es ist wie im wirklichen Leben: Ein Süchtiger schreckt vor nichts zurück, um an „Stoff“ zu kommen.

Die Ausbreitung von „Corona“ lieferte den (willkommenen) Anlass, Gewinne mitzunehmen. Dass beim Platzen einer Preisblase schon mal die Kontrolle abhanden kommt, ist klar – sich selbst befeuernde Abwärtsbewegungen sind die Folge. Die negativen Folgen von „Corona“ auf die Weltwirtschaft werden beim gegenwärtigen Grad der Ausbreitung medial gewaltig übertrieben – Kurse machen Nachrichten. Wichtig ist, dass die Aktionsspielräume von Zentralbanken und Staaten nach 2008 erheblich abgenommen haben, auf Schocks zu reagieren. Das schafft Unsicherheit. „Corona“ dient zugleich als Anlass, die Zentralbanken, insbesondere die Fed, unter Druck zu setzen, weitere Liquidität in die Finanzmärkte zu pumpen.

Ergänzung:
Was die Fed-Politik anbetrifft, so passt folgender brandaktueller Artikel „Fed Pulling Back from Repos at The Wrong Time“ sehr gut zum obigen Thema, insbesondere zu weiteren Vorgehen der Fed im Repo-Markt.
Ich zitiere: „For current market historians, the important point about the Fed’s intervention in the repo market is that it was beneficial for stock prices to have the Fed adding liquidity in this way. And the Fed’s gradual departure since early January has meant a withdrawal of liquidity from the banking system, and from investment accounts, which has put downward pressure on stock prices. The novel coronavirus has only amplified that downward pressure.“ …Das „Corona“-Virus hat lediglich den Abwärtsdruck verstärkt…

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