Die Spirale der Eskalation dreht sich immer schneller. Es geht um mehr als nur die Ukraine, es geht um die Hegemonie. NATO gegen Russland – bis zum bitteren Ende.
Edward Kennedy, der 2009 verstorbene Senator aus Massachusetts, galt als der talentierteste Politiker seiner Dynastie. Als die WolfowitzDoktrin, die bis heute die US-Außenpolitik bestimmt, 1992 veröffentlicht wurde, hatte er nur einen Begriff dafür: »Imperialistisch!«
Paul Wolfowitz, ehemals Demokrat, später Verteidigungsminister unter George W. Bush, Weltbank-Präsident und Säulenheiliger der Neocons, formulierte darin, wie es nach dem Zerfall der Sowjetunion weitergehen sollte. Die »Richtlinien für die Verteidigungsplanung«, wie der offizielle Titel lautet, waren zunächst nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, fanden aber den Weg in die Redaktion der New York Times und sorgten sofort für einen Sturm der Entrüstung.
Unverblümt hatte Wolfowitz beschrieben, wie man den Supermacht-Status mit allen Mitteln verteidigen werde und nicht zulasse, dass eine andere Macht – und sei es auch nur eine regionale – sich je würde entwickeln können: »Unser oberstes Ziel ist es zu verhindern, dass ein neuer Rivale entsteht, weder auf dem Territorium der früheren Sowjetunion noch sonst wo. (...) Wir werden verhindern, dass eine feindliche Macht eine Region dominiert.«
Das Highlander-Motto
Wegen der heftigen öffentlichen Reaktion schwächte man den Text dann ab, versah ihn mit einer Reihe von Weichmachern. Der Kern blieb aber unverändert: Es darf nur einen geben! Das Highlander-Motto war als Prinzip der US-Außenpolitik festgelegt. »Dass die Weltordnung letztlich von den USA aufrecht erhalten wird, trägt zur Stabilisierung bei...« heißt es weiter, und dann: Die USA »übernehmen die Verantwortung, jedes Unrecht richtigzustellen.« Damit machte sich Washington zum Ankläger, Richter und Exekutor gleichzeitig. Was richtig oder falsch ist, entscheidet allein das Weiße Haus. Zum Nahen Osten fiel den US-Militärplanern folgendes ein: »… unser übergeordnetes Ziel ist es, die dominante externe Macht zu bleiben und den Zugang der USA und des Westens zum regionalen Öl zu garantieren.«
1992, zu einer Zeit, da Russland hart an der Staatspleite schrammte und knapp davor war, ein Zombie-Staat zu werden, warnte Wolfowitz: »Wir erkennen weiterhin, dass die konventionellen Streitkräfte der ehemaligen Sowjetunion das größte militärische Potenzial in Eurasien haben und ein Risiko für die Stabilität in Europa darstellen ... durch Versuche die neuen, unabhängigen Republiken Ukraine und Weißrussland wieder einzugliedern. Russland bleibt die stärkste militärische Macht der Region und der einzige Staat, der die USA zerstören kann.«
Das entsprach Anfang der 90er Jahre der Wahrheit und tut es heute noch viel mehr. Russland ist hochgerüstet, widersteht den Sanktionen und richtet sich ein auf einen langen Konflikt ein – im Wissen: Die USA werden nicht nachgeben, weil sie nicht nachgeben können. Die Wolfowitz-Doktrin wäre dort, wo sie schon vor Jahrzehnten hätte landen sollen, nämlich auf dem Misthaufen der Geschichte.
Kein Platz für Zwei
Wenn man nur eine regionale Macht aufkommen lässt, könnten andere auch auf die Idee kommen: China, Indien, Saudi-Arabien usw. Vorbei wäre es mit einer Welt, die sich nur um einen Pol dreht, den in Washington. In einer Welt mit mehreren Kraftzentren, wer wäre dann der Ankläger, Richter und Exekutor?
Noam Chomsky, 1928 geborener amerikanischer Intellektueller, fasst die Situation so zusammen: »Abgesehen von der Zerstörung der Ukraine besteht die sehr reale Gefahr eines Atomkrieges. Millionen hungern, weil Getreide- und Dünger-Exporte aus der Schwarzmeerregion unterbrochen sind. (...) Europa ist schwer getroffen, weil die natürliche komplementäre Beziehung zu Russland zerstört und die Verbindung zum aufkommenden China ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen ist. Es ist eine offene Frage, ob Europa – insbesondere die deutsche Industrie – den eigenen Niedergang akzeptiert, indem es sich Washington unterordnet.«
In der Wolfowitz-Doktrin ist kein Platz für eine zweite Macht, auch nicht für eine starke Europäische Union. Indem man Russland militärisch in die Knie zwingen will, nimmt man gleich einen zweiten Spieler vom Feld. Wie bequem.