Seit vielen Jahren wähnten wir uns in einer Krise; oder eher in Krisen. Spätestens seit 2022 wissen wir, dass das damals keine Krisen waren. Markus Reimer, international gefragter Keynote-Speaker zu den Themen Innovation, Qualität, Wissen und Agilität, macht sich Gedanken dazu, wie wir das Unerwartete erwarten können.
Wir stürzten in den letzten Jahren von einer Krise in die nächste. Dabei passieren sie nicht chronologisch aufeinander folgend, sondern sich ineinander verschachtelnd und einander überdeckend. Und mit keiner Krise hatten wir so richtig gerechnet. Es schien im höchsten Grad unwahrscheinlich, dass das Klima sich dann doch irgendwann so verändern würde, wie schon seit Jahrzehnten angekündigt. Wir hielten es auch für unwahrscheinlich, dass uns eine Pandemie ereilen würde; auch hier gab es den einen Warner oder die andere Warnerin. Einen Krieg in Europa hielten wir für gänzlich unwahrscheinlich, obwohl ja der letzte noch nicht allzu lange zurückliegt. Und es deuteten schon länger so manche Zeichen in diese Richtung. Was ist also los mit uns? Wie gehen wir um mit den Unwahrscheinlichkeiten dieser Welt?
Das Unerwartete erwarten
Es ist der Unterschied zwischen dem Erwartbaren und dem Unerwartbaren. Was wir kennen und schon einmal erlebt haben, das halten wir für wahrscheinlicher als das Nicht-Erlebte. Nun müssen wir unsere neuen Erfahrungen in das integrieren, was wir unser Leben – privat und beruflich – nennen. Der ehemalige Finanzmathematiker Nassim Nicholas Taleb hat in seinem Buch „Der schwarze Schwan" über die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse geschrieben. Dabei belegt er, dass wir enorm unwahrscheinliche Ereignisse nicht voraussehen können; es vor allem aber auch nicht wollen. Stattdessen verdrängen wir sie. Und er stellt heraus, dass dies besonders dann der Fall ist, wenn es um Geld geht. Aber geht es nicht fast immer um Geld? Wir müssen gerade feststellen, dass Lieferketten endlich (Klima), fragil (Pandemie) und politisch (Krieg) sind. Das ist mit großer Wahrscheinlichkeit für uns alle sehr unerfreulich.
Der deutsche Politikwissenschaftler Carlo Masala prognostizierte 2016: „Das 21. Jahrhundert wird dadurch gekennzeichnet sein, dass man das Unerwartete erwarten muss und dass keine großen Strategien für eine stabile Ordnung in der internationalen Politik entwickelt werden können." Keine gute Prognose. Das scheint nun - sechs Jahre später – bereits offensichtlich zu sein. Doch was tun? Wie geht das: das „Unerwartete erwarten"? Und muss das herausragende Organisationen interessieren? Selbstverständlich! Herausragende Organisationen sind auch überzeugt vom Nicht-Zwingend-Erwartbaren und suchen deswegen Chancen. Hier sind wir im Bereich der Innovation. Es ist nicht erwartbar, dass das Neue funktioniert oder sich etablieren wird. Herausragende Organisationen schaffen dafür aber Voraussetzungen und erhöhen damit Wahrscheinlichkeiten. „Eine herausragende Organisation formuliert herausfordernde Ziele, die kreatives, innovatives und disruptives Denken anregen". Sie „entwickelt eine Kultur und baut Fachwissen für den Einsatz von Werkzeugen und Techniken auf, um Verbesserung zu ermöglichen." (EFQM Modell, Kriterium 2.3)
Wahrscheinlichkeiten erhöhen, das gelingt wiederum Lottospielern nicht. Trotzdem: 2021 gab es in Österreich 47 Lottomillionäre; praktisch gegen jede ernstzunehmende Wahrscheinlichkeit, denn es werden jedes Jahr um die 25 Millionen Lottoscheine ausgefüllt. Trotzdem wird hier gegen die offensichtliche Unwahrscheinlichkeit angekämpft. Denn wie sagt Bertolt Brecht zu treffend: Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren. Auch wenn es gegen jeden Hausverstand sein sollte.
Und was sagt der Hausverstand?
Andererseits ist es auch gar nicht so sinnvoll, mit Hausverstand mit (Un-) Wahrscheinlichkeiten umzugehen. In der legendären Monty-Hall-Spielshow mussten sich die Teilnehmenden für eine von drei verschlossenen Türen entscheiden. Hinter einer Tür war der Hauptpreis, hinter den anderen beiden waren Ziegen versteckt. Nachdem sich die Spieler für eine Tür entschieden hatten, öffnete der Moderator eine andere Tür mit einer Ziege. Und nun konnte sich die Spielerin nochmals umentscheiden, also die ursprünglich gewählte Tür wechseln. Aber warum sollte sie das tun? Das ergibt keinerlei Sinn. Nun, weil der Wechsel tatsächlich die Wahrscheinlichkeit erhöht. Die erste Tür wurde mit einer Wahrscheinlichkeit von 33,3% für den Hauptpreis gewählt. Diese Wahrscheinlichkeit bleibt bestehen. Wählt man nun aber die andere Tür von den beiden verbliebenen, dann ist die Wahrscheinlichkeit 50%, den Hauptpreis zu gewinnen. Das ist auf den ersten Blick und vielleicht sogar auch auf den zweiten Blick völlig unlogisch und nicht erwartbar. Und dennoch ist es irgendwie dann doch logisch. Das Phänomen ging als das „Monty-Hall-Problem" in die Fachliteratur ein. Es klingt absurd und unwahrscheinlich. Aber so geht das, was Professor Masala meint: Wir müssen das Unerwartete erwarten. Eine herausragende Organisation würde daher die Tür nochmal wechseln. Oder?