Fed-Chefin Yellen hat am zurückliegenden Mittwoch den bullischen Aktionären neues Leben eingehaucht. Sie sagte bei ihrer halbjährlichen Anhörung vor dem US-Kongress: „Weil das neutrale Zinsniveau gegenwärtig verglichen mit historischen Standards niedrig ist, müssten die US-Leitzinsen bis zu einer neutralen Ausrichtung nicht sehr viel weiter steigen.“ Das wurde als Bestätigung dafür genommen, dass die Politik des billigen Geldes noch längere Zeit weitergeht.
Im folgenden Chart (Chartquelle) kann das Geschehen im S&P 500 der zurückliegenden Wochen technisch eingeordnet werden. Der Index hat dabei den hier angesprochenen Pegel bei rund 2411 per Tagesschlusskurs respektiert. Auch die für die mittelfristige Entwicklung bedeutsame EMA50 blieb im wesentlichen intakt. Der Index hat am zurückliegenden Freitag ein neues Allzeithoch produziert – zusammen mit dem Dow. Auch der Russell 2000 erreichte ein neues historisches Hoch, er repräsentiert die niedrig kapitalisierten Werte, die in den zurückliegenden Monaten hinter den großen Indices hergelaufen sind. Bemerkenswert auch: Der S&P 500 hat auf die Rede von Yellen mit einem Gap-up reagiert. Die entstandene Kurslücke kann als Bestätigung für einen Ausbruch gewertet werden – oder auch als Erschöpfungs-Signal. Gaps treten seit Monaten gehäuft auf, die Aussagekraft einer einzelnen Lücke scheint mir daher derzeit gering. In ihrer Häufung weisen sie aber darauf hin, dass die „Technik“ hinter dem Chart zunehmend fragiler wird.
Gleichzeitig hat der VIX, der Angstmesser an Wall Street am zurückliegenden Freitag auf dem tiefsten Niveau seit 1993 geschlossen, dem Jahr seiner Kreation. Auf Tagesbasis ist er erneut deutlich überverkauft wie schon Mitte April und in der zweiten Hälfte Mai. Beide Male kam es zu einem kurzfristigen Rückschlag beim S&P 500. Nichtsdestotrotz steht der S&P 500 heute mehr als 5% über seinem April-Tief.
Nach Dow-Theorie zerfällt ein primärer Bull-Trend in drei Phasen. Die Einordnung des aktuellen Bull-Runs sieht meiner Meinung nach so aus: Im März 2009 begann bei einem Stand von 680 im S&P 500 die Bodenbildung, die bis Herbst 2011 und einem Stand von rund 1220 dauerte. Immer mehr Akteure reagierten in der folgenden Partizipationsphase auf bekannt werdende Verbesserungen der Gewinnsituation der Unternehmen. Der Index stieg in dieser Zeit bis auf rund 2120. Im Herbst 2016 begann die dritte Phase. In diesem “spekulativen Exzess” werden Kurse v.a. von Hoffnungen und Erwartungen getrieben (Hoffnung auf die Wohltaten von Trump). Immer mehr uninfomierte Anleger steigen ein und übernehmen Material, das das „Smart Money” der ersten Stunde nach und nach abstößt. Dementsprechend ist die Distributionsneigung seit einigen Monaten auch ausgeprägter.
Spannende Frage: Wie lange wird diese finale Phase anhalten? Dazu weiter unten mehr.
Ein anderer Blickwinkel auf die Entwicklung des S&P 500 legt die Selbstähnlichkeit der Kursbewegungen mit linearen Mustern in unterschiedlichen Zeitebenen zugrunde. Stabile Phasen zeichnen sich dadurch aus, dass das Linearitätsmaß von oben kommend unter 50% fällt, ein Tief ausbildet und dann bis zu einem Maximum ansteigt. Demzufolge startete im Spätjahr 2003 eine solche stabile Phase und endete im Juli 2007. Im aktuellen Bull-Run begann die stabile Phase im April 2010 und endete Ende 2014. In auf die stabile Episode folgenden chaotischen Phasen nimmt das Linearitätsmaß vom erreichten Maximum ab, sinkt auf ein Tief und steigt von dort wieder an, erreicht das zuvor gebildete Maximum jedoch nicht mehr. Generell zeichnen sich chaotische Phasen durch verstärkte Oszillationen beim Linearitätsmaß aus. Die chaotische Phase des vorherigen Zyklus dauerte von August 2007 bis März 2010. Der rote Kurvenzug im folgenden Chart oben zeigt den Zusammenhang.
Im Chart werden zwei weitere Analyseergebnisse visualiert. Die gelbe Linie unterhalb des Verlaufs des Linearitätsmaßes wertet in einem bestimmten Zeitfenster statistisch die Abweichung des aktuellen Kurses von einem Mittelwert aus. Bei Überschreitung von zwei Standardabweichungen schlägt die gelbe Kurve nach unten aus. Die hellgrüne Kurve darunter visualisiert Richtung und Zuordnung von drei exponentiellen Mittelwerten (EMA14, EMA50, EMA200). Ein Ausschlag nach unten zeigt eine übergeordnete Abwärtsorientierung des Kurses an. Aktuell warnt die statistische Verteilung vor einer starken Kurs-Übertreibung, die Auswertung der Mittelwerte zeigt jedoch ein intakt bullisches Bild, so das das Signal der Statistik aktuell nicht bestätigt ist.
Das Ergebnis einer „Gesamtschau“ auf den S&P 500 würde ich wie folgt zusammenfassen: Der Index befindet sich in einer starken (spekulativen) Übertreibung, die gemessen am einfachen Mittelwert über sechs Jahre (72 Monate) großer ist als im Oktober 2007, vor der Finanzkrise, jedoch noch geringer ausfällt als beim Platzen der docom-Blase im Jahre 2000. Legt man die lineare Regression seit 1993 zugrunde, so ist die Übertreibung allerdings bereits größer als seinerzeit.
Die Investment-Legend Bob Farrell hat einmal gesagt: Übertreibungen in die eine Richtung führen zu Übertreibungen in die andere. Der langfristige Marktverlauf ist wie ein Gummiband – wird es stark in eine Richtung ausgelenkt, schwingt es nach dem Loslassen in die andere. Demnach ist ein besonders großes Korrekturpotenzial zu erwarten, wenn, ja wenn, das Gummiband erst einmal losgelassen worden ist.
Wann kann das sein? Für die Bullen ist die Oberseite einer aus 2009 ableitbaren Aufwärtskanals klar anziehend (siehe Chart – Chartquelle). Sie wurde zuletzt in der ersten Hälfte 2015 mehrfach erreicht, aber nicht überwunden. Damals formierte sich der Pegel von rund 2120 als Widerstand, der erst mit der Schützenhilfe der Trump-Hoffnungen nachhaltig überwunden wurde (und die spekulative Übertreibungsphase einleitete). Die genannte, mit etwa 17 Punkten pro Monat ansteigende Linie liegt aktuell bei rund 2550. Ich vermute, dass dieser Bereich auf Sicht einiger Monate auch tatsächlich noch erreicht werden kann.
Wichtige Punkte im Börsengeschehen werden immer auch flankiert von wichtigen Ereignissen. Beim Übergang von der Bodenbildung zur Partizipation war das die Überwindung der Angst vor einer Staatspleite der USA, den Übergang zur spekulativen Übertreibung gestaltete die Wahl Trumps mit seinen drei großen Versprechungen Deregulierung, Steuersenkungen und Kredit-finanzierten Investitionen in die Infrastruktur.
Keines dieser Vorhaben hat bisher Gestalt angenommen. Das Zurückdrehen von Obamacare ist im ersten Anlauf gescheitert, aktuell wird im Hintergrund um eine Neuauflage gerungen. Über sie soll in Kürze abgestimmt werden – noch vor der Sommerpause der US-Kongresses. Den Akteuren an den Finanzmärkten geht es dabei v.a. um den Test, inwieweit sich Trump durchsetzen kann. Das soll Aufschluss geben über das Wann und Wie auch der anderen Vorhaben.
Hoffnung auf diese Vorhaben hat die Bullen bisher getragen. Sie dürfte sie auch noch weiter tragen, so lange erwartet werden kann, dass eine Umsetzung vor dem St.-Nimmerkeins-Tag stattfindet.
Zusätzlich müssen sich allerdings auch die Makrodaten zur Entwicklung der Wirtschaft so gestalten, dass nicht ernsthaft mit einem Abrutschen in eine Rezession gerechnet werden muss. Während der PPI im Juni leicht angestiegen ist, blieb der CPI unverändert und dümpelt seit Jahresbeginn mit 1,7% Jahresrate dahin. Der Einzelhandelsumsatz ist im Juni unerwartet gesunken und kommt auf +3,1% gegenüber dem Vorjahr. Seine Trendauswertung zeigt Tempoverlust. Auch andere Datenreihen, wie etwa die privaten Hausbaubeginne und die Verkäufe leichter Kfz verlangsamen sich. Der Produktionsindex hingegen hat im Juni mit 2,4% deutlich zugelegt und dabei auch eine aus Juli 2010 kommende abwärts gerichtete Trendlinie über die jährlichen Veränderungen nach oben durchstossen. Das Verbrauchersentiment sinkt im Juli (vorl) weiter ab, es hatte zuletzt zu Jahresbeginn ein Hoch ausgebildet. Seine Trendauswertung meldet Tempoverlust. Die Ölpreise konnten zuletzt weiter zulegen. Öl Brent steht bei 49 Dollar, klar über dem zuletzt erreichten Tief von knapp 45 Dollar.
Rezessionsanzeichen sind nach wie vor Mangelware. Nach überschäumender Wirtschaftskraft sieht es allerdings auch nicht aus. Die Inflationsentwicklung dürfte weiterhin im Fokus stehen.
Man kann das mit der Hoffnung auf die Trump-Vorhaben auch so sehen: Es ist gut, dass davon bisher kaum etwas in die Wege geleitet wurde. Eine verhaltene Wirtschaftsentwicklung dürfte bis zu einem gewissen Grad die mit diesen Vorhaben verbundene Phantasie noch weiter anstacheln und demzufolge die Kurse stützen. Was allerdings geschieht, wenn die schließlich umgesetzt wurden, steht auf einem anderen Blatt…
Für die anlaufende Quartalssaison wird ein Gewinnwachstum vom 8,1% verglichen mit dem Vorjahr erwartet nach Gewinnen im ersten Quartal, die sich so gut entwickelt hatten wie seit 2011 nicht. Angesichts des hohen Bewertungsniveaus muss sich erst noch zeigen, ob die Berichtssaison genügend bullische Impulse liefern kann.
Und so bleibt die Erwartung, das die kommenden Monate (wie auch saisonal üblich) einen erratischen Verlauf bei den Aktienkursen bringen dürften. Ganz kurzfristig geht es darum, das erreichte Allzeithoch im S&P 500 zu verteidigen und auch nicht wieder unter die (grüne) Aufwärtslinie aus Februar 2016 zu fallen. Die Aufgabe ist „anspruchsvoll“, das Abwärtsrisiko ist zunächst hoch, unter etwa 2411 könnte es erst einmal „eng“ werden.
Der Russell 2000 hatte in den zurückliegenden Tagen relative Stärke gezeigt. Das könnte ein frühes Indiz auf nun wieder zunehmende Marktbreite sein. Die Gegenüberstellung von ETFs auf US SmallCaps und LargeCaps deutet zumindest mit nachlassender Dynamik der Markt-Verengung eine Chance auf eine Verbesserung der Marktbreite an. Aber belastbar ist das ebenfalls noch nicht.
Der S&P 500 hat im Verbund mit anderen US-Indices ein neues Allzeithoch erreicht. Gleichzeitig steht der VIX auf Allzeittief, was eine sehr geringe Besorgnis der Akteure anzeigt. Ob es gelingt, das erreichte Niveau zu verteidigen, ist zweifelhaft. Erratische Monate stehen an. Die Quartalssaison beginnt mit hohen Erwartungen, die Vorhaben von Trump haben bisher kaum Gestalt angenommen. Die Hoffnungen darauf halten die Kurs-Phantasie eher noch wach. Andererseits lauern eine Menge potenzieller Querschläger. Einer ist die anstehende zweite Abstimmungsrunde im US-Kongress über die Abschaffung von Obamacare.
Nachtrag:
(17.7.17) Zum Thema „hohe Bewertung des S&P 500“ zeigt der folgende Chart das Kurs-Umsatz-Verhältnis. Umsatz hat gegenüber Unternehmensgewinnen den Vorteil, dass der Spielraum für irgendwelche Buchhaltungstricks gering ist. Das Verhältnis ist mit 2,12 deutlich höher als vor der Finanzkrise, es nähert sich aktuell dem Hoch aus 2000.