By Mario Buchinger on Mittwoch, 14. Juli 2021
Category: Europa

Industrie 5.0 – Eine längst fällige Korrektur

Es ist die Europäische Kommission und nicht die Wirtschaft, die eine notwendige Kurskorrektur von Industrie 4.0 ins Spiel bringt. Was soll sich ändern? Die Inhalte von Industrie 5.0 sind nicht technischer Natur und nicht unmittelbar mit Effizienzsteigerungen verknüpft, wohl aber mit der Überlebensfähigkeit von Unternehmen.

Die Ideen von Industrie 4.0 sind nun gut zehn Jahre alt und seitdem streben fast alle Unternehmen nach noch mehr Digitalisierung und dem Einsatz digitaler Technologien. Zudem existiert die falsche Annahme, Industrie 4.0 sei primär Automatisierung. Auch Digitalisierung greift zu kurz, das habe ich als junger Student getan, als ich meine alten Kompakt-Tapes auf CD kopiert habe. Industrie 4.0 ist im Wesentlichen die Vernetzung digital operierender Systeme in Produktion und Logistik.

Ein Rückblick

Wenn es Industrie 4.0 gibt, muss es auch 1.0, 2.0 und 3.0 geben:

Industrie 1.0: Die Dampfmaschine ermöglicht das Bewegen viel größerer Lasten und erweitert die Möglichkeiten verglichen mit denen, die man mit der Kraft von Menschen und Zugtieren hatte.

– Industrie 2.0: Erste Automatisierungsabläufe wie zum Beispiel das Fließband, das besonders durch Henry Ford in der Automobilindustrie bekannt – aber keineswegs von ihm entwickelt – wurde. Das eröffnete Möglichkeiten der Massenproduktion und entlastete die Mitarbeitenden.

Industrie 3.0: Die Effizienzsteigerung durch computergestützte Abläufe wie zum Beispiel CNC-Systeme, bei denen ganze Fertigungsabläufe aufgrund eines Programms stabil und reproduzierbar umgesetzt werden konnten. Dies wurde ab den 1970er Jahren möglich.

Industrie 4.0 wurde erstmalig von wirtschaftsnahen Wissenschaftlern auf der Industriemesse in Hannover 2011 ins Spiel gebracht. Damit benannte man eine industrielle Revolution, die zu dem Zeitpunkt noch gar nicht stattgefunden hat. Man prognostizierte lediglich aufgrund von Annahmen über technologische Möglichkeiten der Gegenwart und der absehbaren Zukunft etwas wie eine industrielle Revolution.


Komplex, komplexer

Die oben erwähnten Missverständnisse hinsichtlich der tatsächlichen Bedeutung von Industrie 4.0 sind das kleinste Problem. Die viel größeren Probleme waren und sind noch heute die resultierenden Konsequenzen und Entscheidungen.

 Unternehmenslenker*innen sehen in den digitalen Technologien nicht selten ein Werkzeug, um noch weiter zu rationalisieren und Kosten einzusparen. Ich habe selbst viele Diskussionen innerhalb von Unternehmen und auf Tagungen erlebt, in denen völlig schmerzfrei überlegt wurde, wann sich eine Automatisierung rechnet, indem man dafür Leute entließe und so lästige Personalkosten sockelwirksam einsparen könnte.

 Die technische Lösung wird immer wieder hergenommen, um vorhandenen Problemen aus dem Weg zu gehen. Damit kann man einerseits jemand anderem – zum Beispiel dem Lieferanten von technischen Systemen – die Schuld geben. Oder man glaubt irrtümlicherweise, dass Prozessschwächen durch eine modernere, vermeintlich bessere Technologie verschwinden. Dabei hat sich immer bewahrheitet, dass ein mieser Prozess, den man digitalisiert, zu einem digitalisierten miesen Prozess wird. Aber es wird noch schlimmer. Durch die Digitalisierung wird eine weitere Komplexitätsebene eingezogen, was dazu führt, dass die Gesamtkomplexität noch weiter ansteigt und die Problemlösung zusätzlich verkompliziert wird.

 Wir erleben es immer wieder, im Geschäftlichen wie auch im Privaten, dass die Erwartung besteht, man könne Probleme lösen, ohne etwas am Verhalten zu ändern. Bei der Klimakrise sieht man das besonders deutlich. Fast alle wollen etwas dagegen tun, aber die Technologie soll es richten. Das eigene Verhalten zu verändern ist für die meisten Menschen keine Option. In der Entwicklung von Unternehmen und deren Prozessen ist es genauso. Ein Prozess, der nicht funktioniert, kann nicht besser werden, wenn man am Verhalten der beteiligten Personen nichts verändert, egal wieviel Technik reingesteckt wird. Schon Albert Einstein hat treffend festgestellt: „Die reinste Form des Wahnsinns ist es, alles beim Alten zu belassen und gleichzeitig zu hoffen, dass sich etwas ändert."


Auf Irrwegen

Aktivitäten rund um Industrie 4.0 haben nicht selten zu völligen Irrwegen und mitunter auch Katastrophen geführt. Man hat digitale und vernetzte Technologien eingesetzt, ohne die tatsächlichen Kundenbedürfnisse, die immer emotionaler Natur sind, und die dafür notwendigen Lösungen und Prozesse zu verstehen und zu hinterfragen. Implementierungen wurden und werden oft nur deshalb vorgenommen, weil man sich Effizienzsteigerung und Kosteneffekte verspricht. Zudem ist es sehr angesagt, möglichst viel mit digitalen Technologien abzubilden, egal wie sinnlos und wie gering der Mehrwert ist.

Am Ende kommen meist Menschen unter die Räder. Entweder verschwinden ihre Arbeitsplätze, weil Maschinen diese übernehmen und das oft nicht besser, meist sogar schlechter. Oder die Arbeitsbedingungen werden schlechter, weil die Komplexität kaum zu handhaben ist. Alles in allem muss man im Kontext von Industrie 4.0 feststellen, dass zu viel an der eigentlichen Zielgruppe vorbei gemacht wurde, nämlich den Menschen – dies- und jenseits des Vertriebs.

Willkommen in der neuen Welt: Industrie 5.0

Auch wenn es „Industrie 5.0" heißt, so sollte man nicht davon ausgehen, es handle sich hier um eine fünfte industrielle Revolution. Die Ideen, die unter diesem Label kursieren, sind genaugenommen eine längst überfällige Kurskorrektur der Fehler von Industrie 4.0. Man könnte es daher genauso gut „Industrie 4.1" nennen. Aber Namen sind Schall und Rauch, es geht um das, was drinsteckt:

Menschzentrierung: Der Mensch soll im Zentrum stehen. Eine Einsicht, die eigentlich für jede Unternehmer*in selbstverständlich sein sollte – eigentlich. Es gibt eine Vielzahl an Beispielen, bei denen offensichtlich ist, dass es primär um schnellen Profit geht. Jetzt werden einige vielleicht fragen, worum es sonst gehen soll. Und das unterscheidet Unternehmer*innen von Manager*innen. Unternehmer*innen sind sich darüber im Klaren, dass ihr Gehalt und die Existenz ihres Unternehmens von den Kund*innen bezahlt und von den Mitarbeitenden erzeugt wird. Sieht man diese nur als notwendiges Übel zur Maximierung des eigenen Profits, wird man früher oder später ein Problem bekommen. Jede Veränderung und damit auch der Einsatz neuer Technologien muss vor dem Hintergrund der sichtbaren oder angenommenen Bedürfnisse aller beteiligten Menschen entschieden werden. Und wenn die Menschen nur als Ressourcen gesehen werden, die man möglichst einspart, gibt es irgendwann niemanden mehr, der die Produkte und Dienstleistungen kaufen kann. Und das trifft schlussendlich auch Unternehmen, die nur am B2B Markt auftreten.

Nachhaltigkeit: Ein abgedroschener Begriff, der viel beinhaltet, wenn man ihn wirklich ernst nimmt. Wirtschaft und Klimaschutz sind keine Gegensätze, die man ausbalancieren oder abwägen muss. Sie brauchen einander. Nur Unternehmen, die Klimaschutz voll in ihre Entwicklung und operative Arbeit integrieren, können mittelfristig überlebensfähig sein.

Resilienz: Es ist eine Illusion zu glauben, man könne alles, was kommt, genau planen und vorhersehen. Man muss die Ruhe haben, das Ungewisse zu ertragen und dabei aus den gemachten Fehlern so lernen, dass man den Kurs leicht korrigieren kann – die Menschen und die Verantwortung stets im Blick.

Bisher ist Industrie 5.0 nur ein Konzept. In einigen Unternehmen lebt es schon, weil die Entscheider*innen unternehmerisch handeln. Bei vielen fehlt die Einsicht. Es ist aber eine notwendige Kurskorrektur, denn Prosperität ist nur mit und nie gegen die Natur und Gesellschaft möglich.

Bild: iStock

Hinweis der Report-Redaktion: Mario Buchinger spricht zum Thema Industrie 5.0 auch im aktuellen #RestartThinking Podcast
: https://www.buchingerkuduz.com/de/restartthinking-podcast-folge-121-industrie-5-0/