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Von wegen Korruption: Wer das Böse bekämpfen will, braucht starke Nerven und einen starken Charakter. Eine Würdigung von Rainer Sigl.

Sie nannten ihn den Ministranten, und er war der einsamste Mann in Brüssel. Es war schon so viele Jahre her, dass ihn der Schweiger beiseite genommen und sein Angebot gemacht hatte, dass es dem Ministranten manchmal vorkam, als sei das alles in einem anderen Leben passiert. »Wenn du diesen Auftrag in Brüssel annimmst«, hatte der Schweiger schmallippig geflüstert, »dann bist du allein hinter feindlichen Linien. Wenn etwas schief läuft, werden wir alles abstreiten. Wir kennen dich nicht mehr. Von außen wird es aussehen, als wärst du das, was du in Wirklichkeit im Geheimen bekämpfst.« Auf sich allein gestellt, in den Tiefen des mörderischen Syndikats von Brüssel, auf der anderen Seite – und niemand außer dem Schweiger und er selber wussten um die Wahrheit.

Der Ministrant hatte den Auftrag angenommen, denn in ihm brannte das kalte Feuer der selbstlosen Gerechtigkeit. Mit halb geschlossenen Augen blickte er durch sein Hotelzimmerfenster auf die Dächer Brüssels hinab. Dort unten, in diesem Café an der Ecke, würde er bald die Agenten des Bösen treffen, die ihn näher an die Aufdeckung des Geschwürs bringen würden, das den ganzen Kontinent befallen hatte. Sein Feind war der Krebs der Korruption, der Europa und seine schutzbedürftigen Bürger bedrohte, so weit hinter den Kulissen, dass man ihn nur dann aufspüren konnte, wenn man bis zur Nasenspitze selbst in diesen Sumpf hineinwatete. Der Ministrant wusste: Um den Feind zu besiegen, muss man den Feind studieren, ihn im Innersten erforschen. Ja, man muss sogar selbst zum Feind werden. Er atmete tief durch. Noch eine Stunde.

Der Schweiger, so beruhigte sich der Ministrant in jenen Nächten, in denen ihm Zweifel an seiner Mission kamen, war das Gehirn. Er dachte nicht in Wochen oder Monaten, sondern in Jahren und Jahrzehnten. Mit ruhiger Hand hatte er nur kurz im Offenen die Fäden gezogen, um dann wieder abzutauchen; ein persönliches Opfer, das der Ministrant als einer der wenigen, die um diese Wahrheit wussten, anerkennen musste. Keiner der Agenten des Schweigers wusste zu viel von den anderen, doch es gab sie; immer wieder blitzte hinter halb verhüllten Presseaussendungen, seltsam obskuren Interviewantworten und schnell vertuschten Prozessakten die Wahrheit auf, die dem Ministranten trotz seiner Einsamkeit das Gefühl gab, nicht ganz allein dem Feind gegenüberzustehen. Natürlich kannte er nur die Decknamen seiner Brüder im Kampf gegen das Böse: Da war der »Graf«, der seit Jahrzehnten im deep cover die Machenschaften der Waffenindustrie bis in ihre innersten Winkel erforschte und Beweise für irgendwann sicher erfolgende Aufdeckungen sicherstellte; da war der smarte »Callboy«, der aus dem Inneren die Telekommunikationsbranche unterwanderte. Und natürlich war dann noch »die Frisur«, ein Topagent des Schweigers, der seinen Einsatz für das Gute trotz spektakulärer Anfangserfolge nicht zu Ende führen konnte – Agenten sterben einsam, umso mehr, wenn keiner von ihren wahren Absichten weiß.

Der Ministrant nahm sein Sakko. In zehn Minuten würde er aufbrechen und dem Feind ins Gesicht sehen. Jetzt war seine Intelligenz gefragt, die gemeinsam mit seinen Fremdsprachenkenntnissen seine schärfste Waffe war. Er würde den Schweiger nicht enttäuschen. Er würde sein Land nicht enttäuschen. »Wer ausmisten will, muss sich die Hände schmutzig machen«, murmelte er seinem Spiegelbild zu – ein Mantra, das er von seinem Onkel in St. Pölten bekommen hatte. Ein letzter Blick auf die Uhr – es war Zeit. Mit der Entschlossenheit des Gerechten verließ der Ministrant sein Hotelzimmer. Er wusste nicht, was ihn in seinem Kampf gegen die Korruption erwarten würde – doch eines wusste er: Er würde jedes Opfer bringen, um diesen Kampf zu führen. Denn das war er seinem Land schuldig.

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