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Oftmals klar, manchmal trüb: der Blick in die Glaskugel

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Jeder von uns hat so seine Vorstellungen, was die Zukunft bringt. Das reicht von kleinen, persönlichen Veränderungen bis zu den großen politischen und gesellschaftspolitischen Umwälzungen – von realistisch bis utopisch. Und dann gibt es diejenigen, die sich beruflich mit dem Blick in die Glaskugel beschäftigen. Report(+)PLUS hat führende Zukunftsforscher befragt, was das neue Jahrzehnt bringen wird und wie sich das Wirtschaftsleben verändern wird. Und weil 2020 ein Jahr ist, mit dem sich Zukunftsforscher in der Vergangenheit auch aus professioneller Sicht häufig beschäftigt haben, haben wir die Profis gefragt, welche ihrer Vorhersagen eingetreten sind und wo sie daneben gelegen sind.

1. Welche Themen und Trends werden das neue Jahrzehnt prägen?

2. Welche Themen werden gegenüber dem letzten Jahrzehnt an Bedeutung verlieren?

3. Welche Themen werden das Wirtschaftsleben dominieren?

4. Sie haben in der Vergangenheit sicher öfter einen professionellen Blick auf das Jahr 2020 geworfen. Welche Ihrer Prognosen und Erwartungen haben sich bewahrheitet und wo sind Sie daneben gelegen?

Reinhold Popp, Institute for Futures Research in Human Sciences

1. Über die bisher wichtigen Themen hinaus werden ökologische Zukunftsfragen sowie Gesundheit und Pflege eine größere Bedeutung
gewinnen.

2. Das Migrationsthema bleibt wichtig, verliert jedoch die bisherige Top-Position.

3. Die bisher wichtigen Wirtschaftsthemen werden auch zukünftig dominieren, u.a.: Wirtschaftswachstum, Digitalisierung, Export und Weltwirtschaft, Forschung und Bildung. Dazu kommt ökosoziale Marktwirtschaft als Querschnittthema.

4. Punktgenaue Prognosen vermeide ich, weil sie aus wissenschaftlicher Sicht nicht seriös sind. Bei der Vorausschau auf große  Entwicklungslinien, wie etwa digitale Evolution statt digitaler Revolution, lag ich bisher – dank interdisziplinärer Forschung – richtig.


Peter Zellmann, Institut für Freizeit- und Tourismusforschung

1. Es wird eine Verstärkung der Entwicklungen geben, die schon das letzte Jahrzehnt geprägt haben. Die Gesellschaft wird weiblicher, ökologischer und emotionaler. Es geht um eine Aufholen dieser bislang zu wenig beachteten Werte. Das ersetzt nicht das Männliche, Ökonomische und Rationale, das das 20. Jahrhundert dominiert hat, tritt aber gleichwertig neben diese Werte.

2. Die Polarisierung, das Entweder-Oder, wird mit Ausnahme des politischen Parketts immer weiter zurückgedrängt. Das ist auch ein Grund, warum sich die Politik und die Bedürfnislage der Menschen immer weiter auseinander entwickeln. Während die Menschen Ganzheitlichkeit anstreben und andere Sichtweisen gelten lassen, läuft die Politik diesem gesellschaftlichen Trend entgegen. Das Materielle und die Wachstumshörigkeit werden an Bedeutung verlieren, das Streben nach einem höheren Lebensstandard wird durch den Wunsch nach mehr Lebensqualität ersetzt.

3. Die große Frage ist, ob die Wirtschaftspolitik erkennt, dass die Wertschöpfungskomponente der Zukunft die personenbezogene Dienstleistung ist. Das hat nichts mit der Dienstbotentätigkeit der 60er- oder 70er-Jahre zu tun. Es geht um Empathie und Konfliktfähigkeit, um Rhetorik und Extrovertiertheit. Gerade im Zuge der Digitalisierung, Automatisierung und künstlichen Intelligenz wird der persönliche Kontakt für Firmen immer wichtiger. Arbeitsplätze entstehen nicht mehr im Bereich Hightech, sondern High Touch. Das große Unterscheidungsmerkmal wird die Art der Vermittlung sein. Zeit wird eine besonders wichtige Wertschöpfungskomponente sein und muss auch entsprechend bepreist werden. Konsumenten müssen lernen, dass Zeit etwas wert ist. Erste Ansätze dafür sieht man etwa in den viel gescholtenen Baumärkten. Dort hat man vor Jahren begonnen, Personal abzuziehen. Da ist heute eine Trendwende spürbar, ebenso bei Banken und Versicherungen. Das gilt aber auch im Handwerk und produzierenden Bereich.

4. Eine korrekte Prognose aus den 90ern besagt, dass Freizeit die Arbeit als sinnstiftender Lebensbereich überholt. Das hat eine ganze Generation gedauert und darf nicht mit einer Leistungsverweigerung verwechselt werden. Es geht um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Geirrt habe ich mich hinsichtlich der technischen Alleskönner. Ich habe die Smartphones unterschätzt. Ich hatte gehofft, dass die Menschen zwischen permanenter Erreichbarkeit und den tatsächlichen Bedürfnissen besser unterscheiden können. Das ist nicht passiert, auch wenn jetzt langsam ein Trend zum Digital Detox erkennbar ist.


 Andreas Reiter, ZTB Zukunftsbüro

1. Die 2020er-Jahre sind die Dekade der drei großen Ds: Dekarbonisierung, Digitalisierung, demografischer Wandel. In der flüssigen Moderne müssen wir diese drei Bereiche – Ökologie, Ökonomie und Gesellschaft – jedoch verschränkt denken. So ist beispielsweise der Umbau hin zu einer klimaneutralen Wirtschaft nur mit smarten Technologien zu erreichen, die Folgen der alternden Belegschaft und des Fachkräftemangels wiederum können mit Einsatz von KI und Robotik wirtschaftlich abgefedert werden.
Das zentrale Thema des neuen Jahrzehnts ist der ökologische Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft. Dieser neue Green Deal erfolgt vor dem Hintergrund einer ernsthaften Bedrohung des Planeten (Global Warming), wird von Konsumenten eingefordert (moralischer Konsum), wird inzwischen auch – angetrieben von der Generation Greta – von der Politik auf EU-Ebene forciert. Ich erwarte da einen spannenden Umbau in vielen Bereichen und Branchen, z.B. in der Mobilität: intermodaler, kostengünstiger öffentlicher Verkehr, massives Zurückdrängen des Individualverkehrs in Städten etc. Kommen wird u.a. ein Verbot von Kurzstreckenflügen in der EU (unter 1.000 km) bei gleichzeitigem Ausbau der High-Speed-Strecken in Europa, neue E-Sharing-Konzepte in Stadt und Land etc.
Außerdem: Der wachsende Einsatz von KI und Robotik, von Blockchain und 3 D-Druckern wird unseren privaten Alltag ebenso verändern wie neue Geschäftsmodelle ermöglichen.
Gesellschaftlich besonders relevante Themen sind in diesem Jahrzehnt u.a. Bildung, Geschlechtergerechtigkeit (Gender Pay), soziale Absicherung (Grundeinkommen), neue Migrationswellen aus Afrika und dem Mittleren/Nahen Osten (sowohl aus Klimagründen wie auch politisch).

2. Regionale Identität und damit regionale Produkte. Diese firmieren künftig primär unter eco friendly products. Auch das Thema Datensicherheit wird an Bedeutung verlieren. Hier werden die Sicherheitsarchitekturen gewaltige Sprünge machen.

3. - Globale politische Unsicherheiten und Handelskonflikte (USA/China)
- Predictive Analytics, also algorithmisch berechnete und gesteuerte Modelle. Diese werden massiv z.B. unser Konsumleben steuern (der Algorithmus weiß schon im Voraus, was wir wollen), Unternehmen werden damit ihre Produktion und Angebote steuern, passende Mitarbeiter auswählen usf.
- Fachkräftemangel & Talente-Recruiting: In einer alternden Gesellschaft wird es künftig extrem schwierig, Talente und qualifizierte junge Leute zu finden – nicht jede Brache ist durch Automatisation dagegen geschützt.
- Ressourcenleichte Produktion und klimaneutrale Ausgestaltung der Customer Journey: Der grüne Umbau der gesamten Wertschöpfungskette wird zu einem zentralen unternehmerischen Thema.

4. Dazu kann ich nur eine Kollegin zitieren: »A lot of things I’ve predicted didn’t happen yet.« (Faith Popcorn) Es geht bei Prognosen weniger um das genaue Timing als um die richtige Stoßrichtung. Es gibt ja nicht nur EINE Zukunft, sondern mehrere (je nachdem, wie man diese gesellschaftlich/individuell gestaltet). Zukunft ist das Öffnen von Möglichkeitsräumen – entscheidend ist, in welche Richtung man die Dinge hin entwickeln WILL.


Horst Opaschowksi, Opaschowski Institut für Zukunftsforschung

1.Im Lebensalltag der Menschen wird es zunehmend Zeitkriege geben, den Kampf der Anbieter um das Zeitbudget der Verbraucher. Der Slogan »Zeit ist Geld« bekommt in den 20ern eine geradezu existentielle Bedeutung und prägt vor allem das Konsumverhalten der jungen Generation. Sie wird die Erfahrung machen müssen: Konsum konsumiert Zeit. Zeitwohlstand heißt die neue Lebensqualität der 20er.
Zudem stehen uns durch Digitalisierung und KI große Vertrauensverluste bevor, nichts ist mehr sicher. Hass und Hetze im Netz werden wachsende Probleme des neuen Jahrzehnts sein. In diesen unsicheren Zeiten sehnen sich die Menschen wieder nach Vertrauen, Verantwortung und Verlässlichkeit. Vielleicht kommt ein neues Sinn-Jahrzehnt auf uns zu.

2. Die Zehnerjahre waren vor allem eine europäische Dekade zwischen Euphorie und Pessimismus. Die Frage »Was eint uns: Wirtschaft oder Werte?« ist offener denn je. Der Traum von den »Vereinigten Staaten von Europa« erwies sich als Illusion. Nationalismen dominierten.
Die Zehnerjahre waren auch ein Krisenjahrzehnt weltweiter Flüchtlingsströme. Die politischen Debatten wurden von populistischen Reizthemen beherrscht – Flüchtlingskrise und Fremdenfeindlichkeit, Migration und Integration. Hass und Hetze hielten Einzug in die sozialen Netze. Zugleich wurde das Umweltthema als neue soziale Frage wiederentdeckt.
Das Defizit des letzten Jahrzehnts auf den Punkt gebracht: Die positiven Verheißungen einer Vernetzung in allen Lebensbereichen erfüllten sich nicht. Die digitale Revolution machte die Welt und unser Leben nicht besser.

3. Nicht Kryptowährungen, Drohnentaxis und Marsinvasionen werden den Ton und Trend im Wirtschaftsleben bestimmen. Vertrauen wird die wichtigste Währung in der Wirtschaft sein, die man nicht einfach kaufen kann. Wohlstand, Wohlergehen und gesellschaftlicher Zusammenhalt werden die Orientierungswerte der Wirtschaft im kommenden Jahrzehnt. Aus Unternehmenszielen werden zunehmend Wertebotschaften und nicht nur Werbebotschaften. Werthaltigkeit gilt dann als neue Nachhaltigkeit.
Dies alles sind Antworten auf massive Vertrauensverluste im Wirtschaftsleben der vergangenen Jahre. Es kommt zum Paradigmenwechsel vom Wohlleben zum Wohlergehen, vom Waren-Wohlstand zum wahren Wohlstand. Die Menschen wollen besser leben und nicht nur mehr haben.
Die Wirtschaft wird auch über einen neuen Wertekodex nachdenken und Wachstum und sozialen Fortschritt neu definieren. Und für die Verbraucher wird Achtsamkeit ein neues Leitmotiv und bescheidener, aber besser leben ein Verhaltensmaßstab. Die Familie wird zur neuen Wagenburg des nächsten Jahrzehnts. Und Kinder werden wieder zu einem wichtigen und verlässlichen Faktor der Altersvorsorge.

4. Irren ist menschlich. Auch in meiner Zukunftsforschung »menschelt« es: Ich entwickle mitunter folgenschwere Prognosen für das menschliche Wohlergehen – ohne Folgen! 1985 kritisierte ich beispielsweise »die rücksichtslose Ausbeutung der Natur«, die »Verschmutzung der Luft durch Abgase« sowie die verheerenden »Umweltschäden in den Meeren als der Welt größte Giftdeponien«. Meine Prognose für die nahe Zukunft lautete: »Eine ökologisch-ökonomische Zeitbombe tickt!« Die Zeitbombe tickt nach über 30 Jahren noch immer, wie die Fridays-for-Future-Bewegung beweist.
Geirrt habe ich mich auch in meiner Prognose zur Entwicklung der Arbeitslosigkeit und ihren sozialen Folgen. Vor über 20 Jahren prognostizierte ich, dass »spätestens im Jahr 2005 die Fünf-Millionen-Marke erreicht und der soziale Frieden in Deutschland infrage gestellt sein wird«. 2005 erreichte die Arbeitslosenzahl tatsächlich die Fünf-Millionen-Grenze. Aber es passierte nichts, von sozialem Unfrieden im Land keine Spur. Lediglich die Regierung Schröder ließ verlauten: Die Zahlen seien »ernüchternd, aber wahr«. Stattdessen waren die Zeitungen auf der Seite 1 voll von aktuellen Berichten über den Schiedsrichterskandal in der deutschen Bundesliga.


Matthias Horx, Zukunftsinstitut

1. Einer der bedeutendsten Megatrends der 20er-Jahre ist die Neo-Ökologie, damit bezeichnen wir eine Ökologie, die neue, intelligente Integrationen von Mensch, Natur und Technologie schafft. Wir nennen das auch die  Blaue Ökologie. Blaue Ökologie nutzt Technologie, um unsere Beziehung zur Natur zu erneuern. Sie steht im Gegensatz zur Grünen Ökologie, die ihren Ursprung im frühen 19. Jahrhundert findet, nicht für Verzicht, Askese und Mangel, sondern für Fülle und Kreativität. Blaue Ökologie ist zum Beispiel »Urban Farming«, Nahrungsmittelproduktion in einer Großstadt. Oder die Produktion von Lebensmitteln aus CO2, wie sie das finnische Unternehmen Solar Foods entwickelt. Oder digital gesteuerte Energienetzwerke mit vielen dezentralen Bürger-Energieproduzenten. Oder Lösungen der »Circular Economy«, in denen wir Gegenstände eher nutzen als kaufen und komplett recyclen.

2. Die Zehnerjahre waren geprägt von Flüchtlingsangst, Brexit, Populismus einerseits, vom Hype der künstlichen Intelligenz, Smart Living, Bitcoin- und Blockchain andererseits. Die übertriebenen Erwartungen an den »Digitalismus« sind dabei, sich in einen »Techlash« umzuwandeln, eine »Digitale Revision«. Digitale Hasskultur wird ihre Bedeutung verlieren, viele Menschen entziehen sich der ewigen Schrei- und Erregungseskalation, die heute in den Medien stattfindet. Wir stehen einerseit vor einen neuen gesellschaftlichen Sinndebatte, in der es wieder um Konsens und Vertrauen gehen wird. Andererseits vor einer Dekade der Neuausrichtung des Digitalen, auch im Sinne des realen Nutzens, etwa im Kontext der Umweltfrage.

3. Zentrales Thema der kommenden Zeit ist ohne Zweifel unser Verhältnis zur Natur, aber auch zu unserer EIGENEN Natur. Unsere Wirtschaftsweise ist an eine Grenze gelangt und der fossile Kapitalismus scheitert an seinen triumphalen Erfolgen. Die Gretchenfrage lautet deshalb: Welche Wirtschaftsform, welche Unternehmensweisen, welche politischen Systeme können den Klimawandel managen? Klimawandel und Dekarbonisierung sind keine reinen »Umweltfragen«, sie betreffen auch unsere Kultur, unsere Lebensweise, die Gesundheit, unser Wertesystem und Zusammenleben - eigentlich alle menschlichen Bereiche. Das führt zu dem, was wir den BIG BUSINESS CHANGE nennen – kein Unternehmen wird sich diesem Wandel entziehen können. Die Zeiten von Greenwashing sind endgültig vorbei.

4. Eine meiner Fehlprognosen stammt aus dem Jahre 2005: »Von Facebook wird in fünf Jahren niemand mehr reden.« Das war voreilig und im Zorn gesagt, aber auf lange Sicht steckt was Wahres drin: Facebook hat kein nachhaltiges Geschäftsmodell und wird sich entweder stark ändern oder politisch zerschlagen werden. Es hat nur länger gedauert, und der Monopolcharakter war stärker als gedacht. Jetzt werden neue Modelle und Angebote der Sozialen Medien entstehen, die nachhaltiger sind. Ansonsten haben wir in 20 Jahren Trend- und Zukunftsforschung eigentlich immer ganz gut gespürt, was kommt.





Last modified onMontag, 08 Februar 2021 09:39
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