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Wisch und weg

Wisch und weg

Heute sorgen Meinungsgruppen mit Echo-Kammern für das Gefühl von Kontrolle über das eigene Leben. Über Loyalität in einer VUCA-Welt.

Ein Gastkommentar von Herbert Strobl.

Zu Beginn eine – zugegeben sehr subjektive – Beobachtung als langjähriger FH-Dozent: Die Aufmerksamkeitsspanne vieler Studierender sinkt Jahr für Jahr. Zu meiner Studienzeit vor 30+-Jahren war es ganz normal, eine Vorlesung lang mehr oder weniger konzentriert bei der Sache zu bleiben. Heute braucht es alle paar Minuten einen überraschenden Aufmerksamkeits-Catcher, um Studierende aus ihrer permanenten Online-Präsenz herauszuholen. Studien belegen, dass die Zeitspanne, in der sich Menschen ununterbrochen einer Tätigkeit widmen können, im Durchschnitt nur noch bei 40 Sekunden liegt.

Das menschliche Gehirn ist seit grauer Vorzeit darauf konditioniert, unsere Aufmerksamkeit ganz schnell auf das Wichtigste zu lenken. Zum Überleben war jedes Rascheln im Gebüsch wichtig. Bestand dann doch keine Gefahr, konnte man gleich wieder entspannt zur Nahrungssuche zurückkehren. Dieser Mechanismus steckt tief in uns. Nur der Teil mit dem entspannten Zurückkehren funktioniert seit jüngster Zeit nicht mehr so gut.
Wir leben heute in einer Aufmerksamkeitsökonomie, die sich durch Portale, Influencer und Co geschickt monetarisieren lässt. Die Intervalle werden durch Smartphone, Twitter, Newsfeeds etc. immer kürzer. Dementsprechend müssen die Botschaften immer lauter und schriller werden, um überhaupt noch Gehör zu finden.Doch dabei ist es wie in der Oper: Steht während der Vorstellung ein Besucher vom Sitz auf, sieht er kurzfristig natürlich besser. Wenn dann aber alle aufstehen, hat sich die Situation für das ganze Publikum dauerhaft verschlechtert. Das mag ein wesentlicher Grund sein, warum es in sozialen Medien zu einer so starken Polarisierung kommt und sich gesellschaftliche Gräben immer mehr vertiefen.

Steinzeitliche Clanstrukturen boten Schutz im »wir gegen die« und forderten gleichzeitig bedingungslose Loyalität der Mitglieder ein. Diese Zugehörigkeit war der wichtigste persönliche Bezugsrahmen, der gleichzeitig Orientierung schuf und so die eigenständige Einteilung in »gut oder schlecht« auch weitgehend überflüssig machte.

Heute haben Meinungsgruppen mit ihren Echokammern die physischen Clans von einst in dieser Hinsicht virtuell abgelöst. Sie schaffen den neuen Bezugs- und Orientierungsrahmen. Sie sorgen für das Gefühl von Kontrolle über das eigene Leben, Zugehörigkeit und Selbstwertschutz. Sie schaffen ein Ventil für Ärger. Alles archaische, neurobiologische Grundbedürfnisse des Menschen, übertragen in die heutige VUCA-Welt, in der Volatilität (V), Unsicherheit (U), Komplexität (C) und Ambiguität/Mehrdeutigkeit (A) so rasant ansteigen. Es ist so viel einfacher, einer simplifizierenden Antwort zu folgen, als sich selbst über die Vielschichtigkeit einer komplexen Frage den Kopf zu zerbrechen. Eine über Twitter hinausgebrüllte Schwarzweiß-Ansage mit vielen Rufzeichen zieht mehr Aufmerksamkeit auf sich als die Einladung zur neutralen Reflexion mit einem Fragezeichen.

Im Wiener Sigmund-Freud-Park steht auf einer schlichten Granitsäule »Die Stimme der Vernunft ist leise«. Angesichts der jüngsten Vorzugsstimmenergebnisse bei den EU-Parlamentswahlen ist davon auszugehen, dass Clan-Loyalität bei einer erstaunlich großen Gruppe von Wählern jedenfalls höher als Vernunft eingeschätzt werden muss.


Info: www.herbertstrobl.cc

Der Autor: Herbert Strobl ist Managementberater und Entwicklungsbegleiter mit den Schwerpunkten Führung, Veränderung und Unternehmenskultur. Er verfügt über 20 Jahre Führungserfahrung in internationalen Konzernen und arbeitet als systemischer Unternehmensberater.

 

 

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